Artikel zur Entstehung des Theaters

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Freilichtspiele Chur – zum Zwanzigsten

Als 1980 die Institution Klibühni Schnidrzumft an der Kirchgasse 14 ins verflixte siebte Jahr kam wurden die Grenzen des Machbaren als einengend empfunden. Die Stimmung im Höfli hatte mit Konzerten, Schauspielproduktionen, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen bereits viele Theaterinteressierte erreicht, die Klibühni versprach weitere Dimensionen, insbesondere sommer-musikalische Perlen, textliche Experimente, feinnuancierte theatralische Annäherungen in Studioform an sommerlicher Theaterneugierde. Das Publikum schien die theatralische Dimension unter dem Sankt Martins-Uhrschlag zu geniessen.

Die Macher, wir, empfanden die kleine Perle mit dem grossen Globe-Charakter als angenehm, intim aber auch als naturalistisch verführerisch. Wir hätten weiterhin sehr theaterwirksam und in höchster Publikumsnähe Flöhe abzählen können … aber es drängte uns nach mehr Wirkung, nach mehr Publikum, nach mehr. Ganz einfach nach mehr! Natürlich auch nach mehr Geld – auch wenn wir wussten, anfangen werden wir klein müssen, “bescheiden, demütig”. Dankend und dankbar.

Eine freie Produktion als Freilichtspiel auf dem Arcas hatte 1980 eine gewisse Wirkung erzielt, ein “Suppenstein” wurde sozusagen symbolisch-dadaistisch mit Musik von Walti Lietha ausgekocht … leider konnte ich die Produktion nicht sehen, ich war in Mesocco an der “Storia di un Castello” beschäftigt. Zum Kochen brachte die Suppe vor allem unseren Wunsch nach “wir auch!”, und so sassen wir zusammen und hegten aus, was uns die Zukunft bescheren sollte. Erträumen hätten wir uns die Dimensionen nicht können – weder die Wirkung der Projekte noch die dafür nötige Arbeit war irgendwie abschätzbar.

Das erste Stück war bald vorgeschlagen. Unter der Wirkung einer Regieassistenz bei Strehler war klar, es durfte nur das Beste gut genug sein, ein Goldoni musste her, und warum nicht gerade das Stück mit dem “Er” eben grosse Erfolge gefeiert hatte: “Il Campiello”. Er hatte es venezianisch-dialektal, sprachlich sehr sorgfältig und für die italienische Mundartkultur engagiert auf die Bühne des Piccolo gebracht – wir wollten und mussten es sinngemäss aber nicht weniger engagiert für unsere Anliegen übersetzen. Wir hatten ein Ziel, wir hatten Energie und Lust, also gingen wir an die Arbeit. Ich unterstreiche indirekt und wissentlich dieses WIR: Robert Indermaur und Albi Brun allen voran, Vreni Sulser, Ursula Buchli, Forti Anhorn, Andi Joos, Markus Nigg und ihre jeweiligen Partner, Freunde und Freundinnen. Und ein potentiell dynamischer (wie es sich dann zeigte) “Nachwuchs”. Mitgetragen wurden wir auch vom Stadtpräsidenten Andrea Melchior, der uns “machen lassen wollte” und sich vor allem schützend vor den kritischen “Theaterkoryphäen” stellte, aber das sahen wir erst Jahre später.

Zuerst musste eine juristische Struktur her, und die grösste Zeit der Gründungsversammlung am 27. März 1981 ging für die Frage nach dem Namen drauf: Sollte diese Organisation nüchtern und alles ermöglichend “Verein Freilichtspiele Chur” heissen oder doch ganz einfach “Churer Theater Vorussa”. Die Bezeichnung Freilichtspiel hatte eine historisierende Aura, etwas vom Festsspielcharakter war dem in der Praxis und Erfahrung nicht abzusprechen. Nicht die Theaterwerte der Vergangenheit sollten mit unseren Produktionen unterstrichen werden, sondern das neue Potential: Theater spielen im Freien. Einiges wurde damit geäussert. Es sollte “Theater” sein ohne Festspieltendenz, keine Historie und Gedenkfeierlichkeiten sondern “Theater” als Gespräch, als Wort- und Situationsspiel, als Darstellung der Charakter- und Beziehungsnetze. Im Freien, nicht eingeengt von Mauern und kleinen Dimensionen (die grosse Bühne des Stadttheaters war für uns noch “unerreichbar” auch wenn ich gerade dann die ersten Projekte am Staatstheater Stuttgart realisierte): das Detail der Theaterarbeit in der grossen Umgebung, die Sorgfalt in der grösstmöglichen Grosszügigkeit. Das überzeugte die Gründungsmitglieder und später das Publikum.

Theatralisch war damit aber noch kein Schritt getan. Die erste Hürde würde sich erst mit dem Realisierungskonzept stellen: Sprache (inklusiv Dialekte), Übersetzung, Musik, Raum. Wie und wo, und wiederum wie und warum … Die Sprache musste möglichst goldonianisch sein, mit dem ganzen Witz der sprachlichen und sozialen Ebenen, musste natürlich Deutsch sein aber möglichst Italienisch – so wählte man die deutsche Sprache mit weitestgehender italienischer Syntax und fand sich im Bündner und Churer Dialekt goldrichtig (das grösste Lob kam ganz spontan von einer Sekundarschülerin, die nach einer Vorstellung ganz verdattert äusserte: “i ha gär nit gwüsst, dass i so viil Italienisch ka!”.

Aber dann und vielleicht typischer in der Ausrichtung dieser neuen Form von Frei­lichtspiel war die Frage nach der Ausstattung. Es stand früh fest, dass die Aufführungen auf dem Arcas stattfinden sollten, aber wo? Zuunterst im Trichter war die Akustik “interessant”, die Häuser nah, und natürlich dachten wir daran, die Leute aus den Häusern treten zu lassen. Die Türen passten aber (nach den Umbauten) nicht mehr zu den optisch dazugehörigen Fenstern, und ganz banal und praktisch mussten wir merken, dass Theater mit Realität nichts zu tun haben durfte. Ein Dokument ist das Bild von Robert Indermaur, das die Situation am “Gambero Rosso” (Fantasie rund um die Absteige von Pinocchio) definieren wollte und ursprünglich auch für die erste Werbung genügte. Theatralisch mussten andere Dimensionen gefunden werden, so kam man auf die Arena und theatralisierte den Campiello sozial mit Chur als Hintergrund. Das sagt sich jetzt so leicht … jedenfalls die Stimmung war damit definiert und gemacht. Aus den geplanten 15 Vorstellungen (“Ihr könnt wirklich immer nur übertreiben”) wurden fünfzehn ausverkaufte Abende und wir hätten noch einige weitere verkaufen können. Die Diskussionen um das Budget von Fr. 58’000.— (“Ihr seid ja wahnsinnig”) mit gedachten Einnahmen von Fr. 17’000.— (“Träumer!”) und realen Einnahmen vom Dreifachen wurden richtiggehend von der Realität weggefegt. Dem Verein war somit vom ersten Anfang an eine schöne und solide Basis für weitere Produktionen gegeben.

Eine Komödie mit Wort- und Beziehungswitz, mit einer sommerlichen und italienischen Leichtigkeit im vollsten Ernst gab einer Stadt erst ihr Freilichtspiel. Einprägend. Mehrere “Fans” wollten den Arcas in Campiello umtaufen lassen, nachher …

Das war das erste Jahr, das zweite “brachte” mit Jean Grädel und Alex Müller (“Ihr seid ja wieder wahnsinnig, warum Fremde holen?”) den “Mittsommernachtstraum”. Man bemerke die Übersetzung schon nur des Titels … Dieses Projekt gab dem Verein eine weitere Dimension in der Gestaltung der Ausstattung, des Kunstraumes Bühne und Kostüm, und wirkte bei verschiedenen Theatermachern in der Schweiz überzeugend. Erste Nachahmungen fassten in anderen Städten Fuss.

Dann folgte “Mutter Courage”, damit die schönsommerliche Dimension des Theaters nicht nur in der Komödie stecken bleiben durfte. Auch dieses sozialkritische Engagement faszinierte, ganz anders, aber sehr wahrscheinlich erreichte der Verein erst jetzt und spätestens mit dem “Dra Dra” die volle Bedeutung und Dimension des “Theaters Vorussa”. Die Churer Enge war ganz unbemerkt bereits eine schweizerische geworden, Publikum aus Zürich, Schaffhausen, Basel, Luzern und Fribourg aber auch aus Bregenz und aus Stuttgart fand sich ganz natürlich in Chur ein. Sommerlich, kultursuchend, theaterinteressiert.

Die Freilichtspiele Chur, ein Zufall zur richtigen Zeit? mit einigen packenden Ideen und Vorlagen? mit Glück und Mut? … Jedenfalls eine Idee, die Fuss fasste, ihren Weg ging und fliegen lernte.

Oliver, Andrea, Bettina, Bethli, Paul und Maria … Claudia, Renata, Gusti, Reto, Philipp und Peter, Serena, Corina, Denise, Ursina … Adrian, Hubert, Urs, Nesa, Ursula, Diego, Beda, Rainer, Daniel, Domenic, Mario und Martha, Siegfried, Sandra und Selina … und bis jetzt sicher an die zweitausend andere und weitere haben die Freilichtspiele Chur gemacht, getragen, gestaltet, geprägt.

Vielen und allen: vielen, vielen Dank!

Gian Gianotti, Juli 2001

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