Zur Entstehung der Freilichtspiele Chur

Freilichtspiele Chur – zum Zwanzigsten

 

Als 1980 die Institution Klibühni Schnidrzumft an der Kirchgasse 14 ins verflixte siebte Jahr kam wurden die Grenzen des Machbaren als einengend empfunden. Die Stimmung im Höfli hatte mit Konzerten, Schauspielproduktionen, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen bereits viele Theaterinteressierte erreicht, die Klibühni versprach weitere Dimensionen, insbesondere sommer-musikalische Perlen, textliche Experimente, feinnuancierte theatralische Annäherungen in Studioform an sommerlicher Theaterneu-gierde. Das Publikum schien die theatralische Dimension unter dem Sankt Martins-Uhrschlag zu geniessen.

Die Macher, wir, empfanden die kleine Perle mit dem grossen Globe-Charakter als angenehm, intim aber auch als naturalistisch verführerisch. Wir hätte weiterhin sehr theaterwirksam und in höchster Publikumsnähe Flöhe abzählen können … aber es drängte uns nach mehr Wirkung, nach mehr Publikum, nach mehr. Ganz einfach nach mehr! Natürlich auch nach mehr Geld – auch wenn wir wussten, anfangen werden wir klein müssen, “bescheiden, demütig”. Dankend und dankbar.

Eine grössere Produktion hatte 1979 eine gewisse Wirkung erzielt, ein “Suppenstein” wurde sozusagen dadaistisch als Freilichtspiel ausgekocht … (leider konnte ich die Produktion nicht sehen, ich war eingeklemmt zwischen einem kleinen Prinzen in Samedan und einem Musical in Danis – und in einem gewissen “Selbstwertbedürfnis” gab ich mich auch nicht mit solchen “unprofessionellen Experimenten” ab). Zum Kochen brachte die Suppe vor allem unseren Wunsch nach “wir auch!”, und so sassen wir zusammen und hegten aus, was die Zukunft uns bescheren sollte. Erträumen hätten wir uns die Dimensionen nicht können – weder der Wir-kung der Projekte noch der dafür nötigen Arbeit.

Das erste Stück war bald vorgeschlagen. Unter der Wirkung einer Regieassistenz bei Strehler war klar, es durfte nur das Beste gut genug sein, ein Goldoni musste her, und warum nicht gerade das Stück mit dem “Er” eben grosse Erfolge gefeiert hatte: “Il Campiello”. Er hatte es venezianisch-dialektal, sprachlich sehr sorgfältig und für die italienische Mundartkultur engagiert auf die Bühne des Piccolo gebracht – wir wollten und mussten es sinngemäss aber nicht weniger engagiert für unsere Anliegen übersetzen. Wir hatten ein Ziel, wir hatten Energie und Lust, also gingen wir an die Ar-beit. Ich unterstreiche indirekt und wissentlich dieses WIR: Robert Indermaur und Albi Brun allen voran, Vreni Sulser, Forti Anhorn, Andi Joos, Markus Nigg und ihre jeweiligen Partner, Freunde und Freundinnen. Und ein potentiell recht dynamischer (wie es sich dann zeigte) “Nachwuchs”. Mitgetragen wurden wir auch vom Stadtpräsidenten Andrea Melchior, der uns “machen lassen wollte” und sich vor allem schützend vor den kritischen “Theaterkoryphäen” stellte, aber das sahen wir erst Jahre später.

Zuerst musste eine juristische Struktur her, und die grösste Zeit der Gründungsversammlung am 27. März 1981 ging für die Frage nach dem Namen drauf: Sollte diese Organisation nüchtern und alles ermöglichend “Verein Freilichtspiele Chur” heissen oder doch ganz einfach “Churer Theater Vorussa”. Die Bezeichnung Freilichtspiel hatte eine historisierende Aura, etwas vom Festspielcharakter war dem in der Praxis und Erfahrung nicht abzusprechen. Trotzdem, es siegte und überzeugte die schlichte Formulierung. Nicht die Theaterwerte der Vergangenheit sollten unterstrichen werden damit, sondern das neue Potential: Theater spielen im Freien. Einiges wurde damit geäussert. Es sollte “Theater” sein ohne Festspieltendenz, keine Historie und Gedenkfeierlichkeiten, sondern “Theater” als Gespräch, als Wort- und Situationsspiel, als Darstellung der Charakter- und Beziehungsnetze. Im Freien, nicht eingeengt von Mauern und kleinen Dimensionen (die grosse Bühne des Stadttheaters war für uns noch “unerreichbar”): das Detail der Theaterarbeit in der grossen Umgebung, die Sorgfalt in der grösstmöglichen Grosszügigkeit. Das überzeugte die Gründungsmitglieder und später das Publikum.

Damit war aber noch kein erster Schritt getan. Die erste Hürde würde sich erst mit dem Realisierungskonzept stellen: Sprache (inklusiv Dialekte), Übersetzung, Musik, Raum. Wie und wo, und wiederum wie und warum … Die Sprache musste möglichst goldonianisch sein, mit dem ganzen Witz der sprachlichen und sozialen Ebenen, musste natürlich deutsch sein aber möglichst italienisch – so wählte man die deutsche Sprache mit weitestgehender italienischer Syntax und fand sich im Bündner und Churer Dialekt goldrichtig (das grösste Lob kam ganz spontan von einer Sekundarschülerin, die nach einer Vorstellung ganz verdattert äusserte: “Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so gut Italienisch verstehe”).

Aber dann und vielleicht typischer in der Ausrichtung dieser neuen Form von Freilichtspiel war die Frage nach der Ausstattung. Es stand früh fest, dass die Aufführungen auf dem Arcas stattfinden sollten, aber wo? Zuunterst im Trichter war die Akustik “interessant”, die Häuser nah, und natürlich dachten wir daran, die Leute aus den Häusern treten zu lassen. Die Türen passten aber (nach den Umbauten) nicht mehr zu den optisch dazugehörigen Fenstern, und ganz banal und praktisch mussten wir merken, dass Theater mit Realität nichts zu tun haben durfte. Ein Dokument ist das Bild von Robert Indermaur, das die Situation am “Gambero Rosso” (Fantasie rund um die Absteige von Pinocchio) definieren wollte und ursprünglich auch für die erste Werbung genügte. Theatralisch mussten andere Dimensionen gefunden werden, so kam man auf die Arena und theatralisierte den Campiello sozial mit Chur als Hintergrund. Das sagt sich jetzt so leicht … jedenfalls die Stimmung war damit definiert und gemacht. Aus den reservierten 15 Vorstellungen (“Ihr könnt wirklich immer nur übertreiben”) wurden fünfzehn ausverkaufte Abende und wir hätten noch einige weitere verkaufen können. Das Budget (“Ihr seid ja wahnsinnig”) von Fr. 58’000.— mit budgetierten Einnahmen von Fr. 17’000.— und realen Einnahmen vom Dreifachen wurde richtiggehend aus jeder Diskussion und Kritik weggefegt. Dem Verein war somit vom ersten Anfang an eine schöne und solide Basis gegeben.

Eine Komödie mit Wort- und Beziehungswitz, mit einer sommerlichen und italienischen Leichtigkeit im vollsten Ernst gab einer Stadt erst ihr Freilichtspiel. Einprägend. Verschiedene! wollten den Arcas in Campiello umtaufen lassen, nachher …

Das war das erste Jahr, das zweite “brachte” mit Jean Grädel und Alex Müller (“Ihr seid ja wieder wahnsinnig, warum Fremde ho-len?”) den “Mittsommernachtstraum”. Man bemerke die Übersetzung schon nur des Titels … Dieses Projekt gab dem Verein eine weitere Dimension in der Gestaltung der Ausstattung, des Kunst-raumes Bühne und Kostüm, und wirkte bei verschiedenen Theatermachern in der Schweiz überzeugend. Erste Nachahmungen fassten in anderen Städten Fuss.

Dann folgte “Mutter Courage”, damit die schönsommerliche Dimension des Theaters nicht nur in der Komödie stecken bleiben durfte. Auch dieses sozialkritische Engagement faszinierte, ganz anders, aber sehr wahrscheinlich erreichte der Verein erst jetzt und spätestens mit dem “Dra Dra” die volle Bedeutung und Dimensi-on des “Theaters Vorussa”. Die Churer Enge war ganz unbemerkt bereits eine schweizerische geworden, Publikum aus Zürich, Schaffhausen, Basel, Luzern und Fribourg aber auch aus Bregenz und sogar aus Stuttgart fand sich ganz natürlich in Chur ein. Som-merlich, theaterinteressiert, kultursuchend.

Die Freilichtspiele Chur, ein Zufall zur richtigen Zeit? mit einigen packenden Ideen und Vorlagen? mit Glück und Mut? … Jedenfalls eine Idee, die Fuss fasste, ihren Weg ging und fliegen lernte.

Oliver, Andrea, Bettina, Bethli, Paul und Maria … Claudia, Renata, Gusti, Reto, Philipp und Peter, Serena, Corina, Denise, Ursina … Adrian, Hubert, Urs, Nesa, Ursula, Diego, Beda, Rainer, Daniel, Domenic, Mario und Martha, Siegfried, Sandra und Selina … und bis jetzt sicher an die zweitausend andere und weitere haben die Freilichtspiel Chur gemacht, getragen, gestaltet, geprägt.

 

Vielen und allen: vielen, vielen Dank!

 

Gian Gianotti, Juli 2001