Im Vorschulalter waren wir vor allem Familien- und Hauskinder. Kindergärten gab es damals im Bergell noch nicht. In diesem Alter wurden wir zu Hause angehalten mitzuhelfen, unterschiedliche Aufgaben im Tagesablauf zu übernehmen, uns selbst zu beschäftigen sowie zeichnerische und musikalische Tätigkeiten zu pflegen. Den letzten Winter vor der Einschulung verbrachten wir Kinder jeweils bei den Grosseltern in Sent im Unterengadin. Die eine Dimension dieser Übung war, neben der Entlastung unserer Mutter und des Familienbetriebs, die erste ‘Verselbstständigung’ durch die ‘Trennung von den Geschwistern’ und die Chance, jeweils für einige Monate allein zu sein bei den Grosseltern und so eine ‘traditionelle Exklusivität’ und auch, um eine andere Lebensform kennenzulernen. Mein Grossvater mütterlicherseits war Grundbuchgeometer, bei meinem Besuchsjahr war er bereits im Pensionsalter, erledigte noch letzte Güterzusammenlegungen im Tal und löste allmählich sein Büro auf (… “eu vegn jò a tambas-char”) – meine Grossmutter führte und gestaltete das Haus, las viel und vor allem las sie mir Geschichten vor: ‘Tarablas’ Märchen in “unserer eigenen Sprache” (auch wenn sie ‘anders geschrieben’ waren) – und sie erzählte von früher, vom Leben, von Verwandten, von anderen Orten … wunder-bar, und ’nur für mich’ …
>>> auch wenn …
In den ersten Schulklassen während der langen Sommerferien, wenn wir Kinder noch nicht in landwirtschaftlichen Arbeitsdiensten bei Verwandten oder bei uns bekannten Familien eingebunden wurden, besuchten wir alle zusammen die Grosseltern. Eine Form der Kinderspiele in dieser Zeit war das ‘Theaterspielen’ – in allen erdenklichen Erzähl-, Bericht-, Bluff- und Behauptungsformen – vor und mit den gleichaltrigen Kindern, die sich hier alle Jahre wieder trafen. Als Spielort wurde nach und nach die aus Kinderoptik ‘riesige Scheune’ in einem Nachbarhaus in Beschlag genommen. Unter ‘kundiger Leitung’ des redegewandtesten Stadtkindes (… das sprach nicht nur Romanisch, sondern auch bereits ‘Deutsch’! mit allen dazu nötigen Begriffen!) formten wir Landschaften, behaupteten Räume, Geschichten, Beziehungen und hatten auch reale Konflikte. Und im Theater spielten wir ‘als ob’ und ‘wie richtig’ “sco scha quai füss per da vaira”.
Da spielte dann alles hinein, was man im Laufe des Jahres gesehen, sich gedacht, vorgestellt oder auch ’nur’ gehört oder geträumt hatte. Die vielen ‘tarablas’ meiner Grossmutter kamen mir und uns zu Hilfe, und der Himmel hing voller Geigen. Klar mussten auch die Theaterbesuche herhalten, die ‘man’ vielleicht auch real in der Zwischenzeit erlebt hatte: die Churer Kinder gingen ja ‘täglich’ ins Theater – Chur war ja eine Stadt! und so mussten auch ‘rare’ Begebenheiten immer und immer wieder als Idee, Vorlage oder als Behauptung herhalten, ‘in aller Richtigkeit’: “sco schi füss propi propi vaira” – denn Ordnung musste sein …, und einer musste das ganze Programm ja ‘ressischieren’ damit es dann auch wirklich so sein konnte wie ER es sich im Kopf vorgestellt hatte, denn ER war ja “pü fuiber sco tü” …!
Im Bergell wurde Mitte der Fünfzigerjahre, noch rege Theater gespielt, das heisst jährlich in mehreren Formen und zu unterschiedlichen Begebenheiten: der Gemischte Chor hatte die ‘Pflicht’ abwechselnd mit dem Männerchor, der auch gesellschaftliche Pflichten hatte (wofür meistens auch einige Frauen dazu gebeten wurden), ‘begabtere’ Jugendliche opferten sich im Vereinsleben gerne jährlich mit Sketsches oder sonstigen ‘lustigen’ Szenen, wie man sie manchmal auch in richtigen Filmen sehen konnte … und auch die Schulkinder leisteten so ihren Beitrag. Zum ‘Calenda Marz’ (am 1. März, zur ‘Winter-Vertreibung’, oder auch zur ‘Sonnenbegrüssung’ oder zum ‘römischen Jahresanfang’ – je nach verwendeter Begründung) sowie zu Weihnachten musste jede Schulstufe ihren theatralischen und musikalischen Gesellschafts-Beitrag leisten. Die Lehrer bewiesen sich aus Freude oder aus Pflicht als Autoren und Organisatoren des präsentablen Ablaufs der sonoren Darbietungen sowie für ordentliche Auftritte und Abgänge – daran wurden sie und wurden wir gemessen (Lehrerinnen gab es noch keine, die “Mädchen-Handarbeits-Lehrerin” kam aus einem anderen Dorf). Für uns Kinder waren das regelrechte Prüfungen, für das Publikum abendfüllende Gedulds- und Respektübungen. Von unserem Vater, der als Sekundarlehrer für Sprachen und Geschichte wirkte, liegen noch etliche Theaterwerke und Schriften vor, in italienischer Sprache oder im Bergeller Dialekt – ‘bargaiot’. Darüber hinaus pflegte er Gesang und Musik als Organist und Chordirigent und war massgeblich beteiligt an der Kulturarbeit im Tal als Gründungspräsident der Società Culturale und Initiant der Ciäsa Grande in Stampa mit ihren Aktivitäten und Ausstellungen … Er lebte für die Erziehung im Allgemeinen nach dem Freiheitsbegriff von Rousseau und der Handlung nach Pestalozzi: “mit Kopf, mit Herz und Hand”.
Alle Generationen einmal musste dann auch noch >>> LA STRIA aufgeführt werden, das Nationalepos mit ‘möglichst vielen Beteiligten’ und dazwischen kamen noch patriotische Stücke dazu wie WILHELM TELL oder BENEDIKT FONTANA (auf Italienisch oder ‘bargaiot’) und obligate Sänger- und sonstige Festlichkeiten – und das alles dargebracht von den fast immer gleichen Organisatoren und Mitspieler/innen – was bis zu einem Beteiligungsansatz von 10 bis 15% der sechs Tal-Gemeinden ausmachte.
So wuchs ‘man’ in einem recht ’natürlichen’ Bezug zum Theater auf. Jedes Kind bis zur 9. Klasse hatte somit, bereits ‘obligatorischerweise’ eine Palette von gegen 20 praktischen Theater-Erfahrungen vor Publikum erlebt – und war ‘jemand’ in der Gesellschaft, im Dorf, in der Gemeinde, im Tal.
Und so ging es dann auch in der Mittelschule weiter, Theater war eine Möglichkeit, um dabei zu sein – Feiern gab es zur Genüge auch in Chur und irgendein Lehrer, Professor oder Regisseur fand sich dann immer, der es dann organisierte. Und so ’spielte man mit’, zeigte dies und jenes auf der Bühne, hinter der Bühne und natürlich auch nach der Bühne. So war dann das Theater auch in Zürich eine der ersten kulturellen Orte, die ich aufsuchte, die Oper, später auch das Ballett … und die erste Assistenz als ‘Nebenbeschäftigung’ bereits ab dem zweiten Semester an der UNI.
In dieser Tätigkeit oder ‘Nähe zur Theaterpraxis’ kam dann dies und jenes dazu. Ausprobieren wollte ich, auch selber! und bei ‘Erfolg’ … usw. … mehr dazu finden Sie in der >>> RÜCKSCHAU
Im Frühsommer 73 kam so die Idee auf, für die LADINA CENTRALA 1973 (die jährliche Grossveranstaltung der Ladinischen Kultur) in Ardez, eine Produktion als Diskussionsbasis über ‘Theaterformen’ vorzuschlagen. Nach einem Vortrag zur Rätoromanisch-Ladinischen Theatergeschichte vom Mittelschullehrer, Schriftsteller, Autor und Regisseur Jon Semadeni wurden zwei Vorlagen und Spielformen vorgestellt: ein konventionelles Stück von Tista Murk >>> CHI BLER VOUL, PAC PIGLIA (Wer viel will, erntet wenig) und meine >>> SCENA RITMICA PER SES ACTUORS (Rhythmische Szene für sechs Schauspieler) – beide mit Freunden und Studenten aus Chur, Zürich und dem Engadin – in meiner Organisation und Inszenierung, mit anschliessender Publikumsdiskussion … Der FÖGL LADIN widmete der Veranstaltung ein zweiseitiges Protokoll (siehe dort als pdf unter Pressestimmen) – da war ich also auch schon offiziell in der romanischen Gesellschaft ‘angekommen’, als jemand, der sich für Theater interessiert, um dann eine Woche später als Hospitant an der ‘Schaubühne am Halleschen Ufer’ in Berlin praktisch einzusehen, dass auch Zürich noch überhaupt nicht der Himmel des Theaters war …