Tildy Hanhart

 

Gian Gianotti: Spiel der Farben im Licht

 

 

Von seinem Haus in Dörflingen sieht Gian Gianotti nach Süden über weitoffenes Land bis hin zu den Alpen, darüber der unendliche Himmel. Es ist diese „Himmel-Land-Schaft“, wie er sie nennt, die ihn inspiriert. Dieses andauernde Schauspiel wechselnder Farben, Flecken und Bewegungen je nach Wetter, Sonnenstand, Tages- und Jahreszeit malt er auf meist grosse Leinwände.

Aufgewachsen im Bergell, der schroffen Bergwelt, dessen Tal im Winter im Schatten liegt, in welches erst die höher steigende Sonne der länger werdenden Tage wieder Licht bringt, dieses frappante Wechselspiel von Schatten und Licht prägt ebenfalls seine Malerei.

Was Gian Gianotti fasziniert, sind die Wirkungen des Lichts. Er gestaltet sie zu dynamischen Farbvisionen einer nur angedeuteten Landschaft oder Himmelspartie. Manchmal sind Elemente der Natur – Regen, Schnee, Wind, ein Gewitter, eine Felspartie, ein Landschaftsgefüge – zu erkennen. Oder es sind Blüten eingestreut in ein rhythmisch grünliches Pinselgestrichel.

Gegenständliches fehlt mit wenigen Ausnahmen. Es figurieren vielleicht ein Baum, der eigene Kopf von hinten oder einige Bergspitzen. Mit seiner Kopfkomposition von hinten assoziiert sich Gianotti zwar mit einem zentralen Genre der Malerei, dem Selbstporträt. Aber statt des Blickwechsels mit dem potenziellen Betrachter wählt er dessen Position und betrachtet den Farbklang des Hintergrunds des Bildes und verweist auf das, was ihn in der Malerei interessiert.

Kürzlich weilte Gianotti bei seinem Bruder auf dessen Alp im Bergell, der ihn um ein Bild der dortigen Berglandschaft bat. Doch vier, fünf Tage war alles im Nebel, bis stellenweise das Bergpanorama den Nebel durchbrach. Gianotti bewegte und beeindruckte die Bergschwere in der Nebelleichtigkeit. Das wollte er malen und kommentiert: „Vier Nebelbilder sind entstanden, darunter das Kompakte des Berges, darüber das Leichte des Nebels. Es entstand ein erstes Bild, ich liess es im Entstehungsprozess stehen. Ich malte auf neuer Leinwand eine zweites Nebelbild, dann ein Drittes, ein Viertes. Statt wie bisher weiterarbeiten nochmals anfangen.“ Dabei ist es Gianotti gelungen, mit dem Figürlichen der Bergspitzen ein Gegengewicht zur Abstraktion des angedeuteten Nebels und Himmels zu schaffen, statt das Gegenständliche durch weitere Übermalung zu implizieren.

Gianotti geht es hauptsächlich um eine abstrakte Gestaltung seiner Seherlebnisse. „Abstrakte Farbmalerei ist kein Geschmier, sondern die Suche nach einer Ordnung, nach Qualität, nach einer Kommunikation durch die Farbe“, so die Ansicht des Malers. „Es geht um die Suche nach einer Harmonie und zugleich nach Spannung – um Darstellung eines Kontrapunktes wie Hell und Dunkel.“ Dies gestaltet er als komplexes Farbgefüge, beim Betrachten leicht wirkend, aber aufgebaut aus mehreren Farbschichten, die sich durchschimmern. Gianotti ist ein Übermaler oder Schichtenmaler. Seine abstrakte Farbmalerei hat etwas Skulpturales. Er grundiert seine Leinwand. Darauf konzipiert er ein erstes Farbengefüge. Es folgen weitere Übermalungen, um einen bestimmten Farbklang herauszuarbeiten. Sei es in Gelbtönen, in Blauvariationen, in Grün, Grau, Weiss, Rötlich eher selten, eher noch in Blauschwarz.

Dabei entsteht durch die verschiedenen Schichten ein farbliches Schimmern. Dieses akzentuiert der Künstler mit rhythmischen Farbstrichen, starken Farbakzenten oder wolkenartigen Farbflächen. Erzeugt werden auf diese Weise eine Art abstrakte Landschaften oder Himmelansichten, aber auch eine gewitterschwere Stimmung, ein Regenfall, ein Schneegestöber, ein sommerliches Flimmern, Wind- und Sturmimpressionen. Was auffällt, die Pinselstriche gehen meist von oben rechts nach unten links, wie Regenschauer. Das bringt eine Dynamik in die Bilder. Es gibt auch in sich ruhende Farbklänge, vergleichbar einer Glut oder einem Verleuchten einer Abend- oder Morgenstimmung. Ein Vordergrund, respektive Hintergrund fehlt, wesentlich ist das Spiel der Farben in der Bildfläche.

Farbkontraste bewirken Spannung im Bild, ebenso tun dies in einen Farbklang eingefügte starke Akzente. Andeutungen wie ein Landschaftsgefüge, eine Felspartie, Regen oder Schneeflocken ermöglichen eine reale Positionierung. Sie können aber zu einer ungewollten Fixierung auf das Figürliche verleiten – und das möchte Gianotti vermeiden.

„Abstrakt malen öffnet einen Freiraum, ein Schweben im Raum, dann plötzlich braucht man einen Akzent, etwas Konkretes, das baut eine Spannung auf. Die Gefahr dabei, dass man ins Konkrete fällt“, kommentiert Gianotti. „Es ist schwierig, sich beim Malen vom Dinglichen, Sachlichen zu lösen.“ Lässt man sich auf das Figürliche ein, besteht die Gefahr der Einengung. Die Schönheit und die Kraft der Farben sollen zur Wirkung kommen, jedoch nicht programmatisch, wie bei den Zürcher Konkreten, auch nicht so kontrapunktisch wie bei den Divisionisten oder den Pointilisten, sondern als Ausdruck des Seherlebnisses. Eindrücklich gelungen ist die Balance von Dinglichkeit und Abstraktion im Schneegestöber-Bild „I NAIVA E NAIVA“, da fallen Schneeflocken aus schimmerndem dunklen gelblichgrauem Himmel auf helle bläulichgraue Schneefläche.

Dem Maler Gianotti geht es um frei gestaltete Farbräume, welche durch die Farbklänge von Hell und Dunkel und durch die Struktur des Farbauftrags eine Spannung aus Leichtigkeit und Schwere erzeugen. Ausgangspunkt ist eine gewisse Vorstellung eines Landschaftsgefüges, eines Wolkenhimmels in unterschiedlicher Beleuchtung und Wetterstimmung. Die Dörflinger Umwelt bietet dazu eine Fülle wechselnder Ansichten. Ebenso variantenreich gestaltet der Künstler seine Farbräume – düstere, lichtvolle, bedrohliche, stürmische, still leuchtende. Mit seinen Farbimpressionen deutet er Erlebtes an und weckt auch bei den Betrachtenden Erinnerungen an Erlebtes. Obwohl weitgehend abstrakt rühren Gianottis Bilder an konkret Erlebbares.

Ziel seiner Malerei ist das vielfältige Leuchten des Lichts. Das geht bis zum ersten Aufleuchten des Lichts auf dem noch dunklen Kosmos. Was ist Licht? Ein Farbklang in unendlich vielen Variationen. Bei Velasquez ist es der Widerschein auf Seidenstoffen. Bei Rothko sind es schimmernde Farbebenen. Bei Mondrian erzeugen geometrisch gesetzte Primärfarbflächen Lichtwirkungen. Bei Turner sind Stadtansichten und Landschaften in einen gesamtheitlichen Lichtklang getaucht. Bei Rembrandt leuchten die Figuren aus dem Dunkel hervor. Matisse sagte mal explizit: „Das Hauptziel meiner Arbeit ist die Klarheit des Lichts.“

Bei Gianotti geht es um die Wirkung des Lichts. Malend sucht er das Geheimnis des Lichts in seinen unendlich vielen Variationen zu ergründen und zu manifestieren. Scheint die volle Sonne, leuchtet alles auf. Ist der Himmel bedeckt, zeigt sich dieselbe Landschaft ganz anders. Im Lauf des Tages und der Jahreszeiten, dem Wechsel des Wetters erscheint Dasselbe immer wieder anders. Dieses Wechseln ist der Bildgegenstand für Gianotti. Das ist es, wofür er immer wieder eine neue Leinwand aufspannt und seine Farben richtet. Verwandtschaftliches seiner leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Farben im Spiel des Lichts empfindet er in der Malerei von Gerhard Richter, den Bergellern Augusto Giacometti und Giovanni Giacometti wie auch bei Claude Monet.

Wichtig ist Gianotti die Gesetzlichkeit des Goldenen Schnittes. Dieser bestimmt seine Bildmasse. Denn damit die Farbkompositionen zur gewünschten Wirkung kommen, muss das Verhältnis von Höhe und Breite der Leinwand oder der Malplatte stimmen. Gianotti malt hauptsächlich mit Ölfarben. Sie trocknet langsamer und gibt Bedenkzeit fürs Weitermalen. Allerdings möchte er manchmal schneller weitermachen, was mit Acryl leichter möglich ist.

Gianotti malt seine Bilder des Lichts im fensterlosen Untergeschoss seines Hauses, nicht wie die Impressionisten im Freien. Die Stimmung, die er auf der frischen Leinwand hervorbringen will, hat er als Seherlebnis im Kopf oder als Skizze oder Fotografie dokumentiert. Er erinnert sich vielleicht an ein Wetterleuchten, das er von seinem Haus aus beobachten konnte, an einen Regenschauer, der über das Land hinweg zog und die Wiesen aufdampfen liess, an einen Schneesturm in seiner Kindheit, an das Aufleuchten einer Bergflanke. Es sind Impressionen, die Gianotti aus der Erinnerung auf der Leinwand als bewegten Farbklang sichtbar macht. Seine Bilder kennzeichnet er meist nur mit einem Zahlenkodex ihrer Entstehung. Selten tragen sie einen Titel, wie etwa eine Ortsbezeichnung, einen symbolischen Namen oder bezeichnen ein Naturereignis. Das Malen ist Erzählen mittels Farben und Pinselduktus. Ein Bild ist eine Momentaufnahme eines Seherlebnisses, eines Eindrucks oder einer persönlichen Befindlichkeit, die die zeitliche Dimension und Aktualität überlebt haben.

Der Mensch ist ein Wesen, das sich ausdrücken will und muss. Es gibt immer einen Kontext, welchem der Mensch ausgesetzt ist, wozu er wenn möglich Position bezieht und sich findet. Das bin ich, das mache ich, das wird mir angetan, das bedroht mich. Wir leben in einer sehr bewegten, bedrohlichen, von Kriegen bestimmten Zeit, in der viele Menschen unendlichem Leid unterworfen sind. In unserem Land haben wir das Privileg grosser Sicherheit. Doch auch bei uns ist die Fragilität des Lebens in den Vordergrund gerückt. Angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen, könnte man fragen: Darf Gian Gianotti weiterhin seine Farbklangbilder malen? Ist ein Engagement für Kunst noch erlaubt oder Luxus? Die Antwort: Gerade in einer auf Zersetzung und Zerstörungsbereitschaft ausgerichteten Zeit ist Kunst, Musik, Literatur als Ausdruck von Widerstand, als freies Gestalten und Denken nicht nur notwendig, sondern unverzichtbar.

 

Dr. Tildy Hanhart, Kunsthistorikerin

Zürich, Oktober 2023