Paris, Bouffes du Nord, 1974 Timon d’Athène, 1979 Les Yks
ZU GAST (?) bei PETER BROOK
… als ich im zweiten ’séjour’ nach einer Woche etwas vor der Zeit zur Probe ging, war das Haus bereits offen, in Erwartung der Gedanken, des Spiels, der Begegnungen. Der Bühnen-Saal noch leer, eine schöne Stille, Theaterluft, das Auge musste sich einfinden, also stehenbleiben, riechen, hören, die Sesselreihen, gestern sass ich dort drüben, der Sessel quitschte beim Herunterklappen, also heute hier, auf dieser Seite, dritte Reihe, eine angenehme Sicht auf die Spielfläche, der Sessel schwieg und nahm mich auf, ein guter Tag.
Die Schatten gaben den Raum frei, nach und nach, das Haus lebte im Hintergrund, Schritte, Stimmen, eine Tür wurde irgendwo geöffnet … zu früh?
Auf der Spielfläche ein Blechdeckel, daneben eine Handvoll Sand ausgestreut, eher hellgraues Split, der eingerollte schäbige Perserteppich vom Vortag, Stoffballen als Sitzkissen, Gestänge. Weiter weg eine Schuhschachtel? eher eine kleine Holzkiste, eine Stahlseite hängt lose über den Rand. Die Sitzreihen, ein schwaches Gegenlicht, von weit oben.
Auf der anderen Seite sass ich gestern, leere Sitzreihen …? im noch dunklen Hintergrund sitzt doch jemand … sass er bereits da? War ich jetzt seine Vorstellung oder … der Gruss war ein Nicken, unmerklich, mehr gedacht als ausgeführt – hin und zurück, ein ‘Guten Tag!’ und ein ‘Ja, ein guter Tag!’ – ein freundliches, entspanntes Gesicht, ein Lächeln?
“Das Haus” im Hintergrund lebte auf. Warten … bereit sein, und Zeit haben … waren die zwei da drüben auch schon vorher da?
Das Thema am Ende des Vortags war ‘Die lange Ankunft’ oder eher ‘die Anreise’, oder eher ‘also kamen wir’ – oder die Erinnerung daran, dass ‘wir kamen’, dokumentieren, vorschlagen, einem nächsten Publikum als ‘Ankommen’ und als ‘Jetzt Hier Sein’ anbieten …
War eine Ansage da? oder hatte ich die bereits verpasst? Hat einer …? Einige Personen, nach und nach werden alle acht sichtbar, trennen sich von der Rückwand, ein grosser unregelmässiger Kreis, ein Angebot, eine Idee eines Auftritts, wie von einer Neugierde gerufen, eine ebensolche suchend.
Oida?, bleibt stehen?, definiert sie als Die Mitte?, kreist sie langsam ein? Was macht er mit dem Fuss? Der Sand kratzt am Blech – ein Motor? Ein Laster als Fata Morgana? Ein Gewitter im Anmarsch? Die sieben Personen kommen einzeln dazu, und setzen sich auf den Boden, wie auf einer engeren Ladefläche, Einzelne Menschen, jeder in seiner Vorgeschichte. Auf einer ‘langen Reise’ herangerüttelt, verschwitzt, müde. Mit der flachen Hand im Blech stoppt das Rad im Sand jäh ab: die allgemeine Ankunft, gab es ein Zeichen? Ein Hallo? Ein Aufbruch? Wer sind die da, haben die auf uns gewartet? wussten sie …? Wie aus dem Nichts: ‘Das heutige Publikum!’ Leben regt sich, kehrt ein, Begrüssung, ‘allô, bonne soirée, ah, oh! Ah, Oh, Welcome! UaUhà’ … Bereits eingespielte Vorproben für ‘Orgast’? Jedenfalls Organisation der Begegnung, Begrüssung für den Abend … technisches Personal kommt dazu, auch die letzten drei von der Rückwand, fast als Markierung des Spielpublikums … wer ist was, und was ist wer, Gruss, was passiert da …?
Die Saite über der Schachtel wird gespannt und zweimal gezupft, einmal geschlagen, der letzte Ton gespannt und als Ruf … auf dem Klangkörper gedehnt …
… der Teppich wird ausgerollt, Präsenz wird markiert, mehr Publikum wird dazu gebeten, ‘aaah Vorstellung?’ … ‘oui … nach Sonnen…Unter…Gang! an! … dann!’, Schuhe werden bereitgestellt, Tücher, Kissen – drei Stangen werden aufgestellt, ein Seil gespannt, ein kleines, rotes Tuch darüber gehängt, Sprechübungen, Klang- und Stimmfetzen, Bewegungen werden angedeutet, ein Tanzschritt geprobt, ein Rhythmus stimmhaft angedeutet. Ein Applaus wird gewagt, gelacht ‘ja kommt, kommt dazu!’, weitere Personen schleppen Stühle und Hocker heran, der Abend steht … die Begrüssung wird als Applausordnung vorgezogen: ein Publikum, eine Truppe, ein neuer Ort, ein neues Spiel und es wird Abend. Die Sonne ist im Lagerfeuer untergegangen – der Tag dreht sich in die Geschichte …
… und die erzählt von der langen Reise, Wanderung auf der Suche nach der Geschichte in einer neuen, alten Welt und nach dem Publikum dafür, das müde von der Tageshitze kommt und hier lebendig und neugierig wird, das ‘Schuh-Spiel vom langen Weg’ beginnt – und wir sind bereits mitten drin im minimalisierten, vollen ‘Leeren Raum’.
‘John Heilpern’ wird später im Safari-Theater darüber schreiben … Ted Hughes und andere über Orgast … Er übers Schweigen … viele über Fremde Nähe … und Sprachen … und Zeitfäden – Kulturen und Geheimnisse … Menschen … Geschichten … Wanderjahre und Begegnungen. Gespräche, Vorstellungen, Übungen und Ideen. Ein langes Leben lang.
Weiter, persönlicher, stichwortartig:
Bei ihm war es eine Helligkeit der Neugierde und der Ruhe im Raum.
Die eigentliche Kommunikation bei ihm war ein Nicken – es war eine Suche nach Inhalten und Lösungen die man sich vorgenommen, gewünscht hatte.
Auch und gerade im Halbdunkeln entstand Klarheit, im Gedanken.
Überzeugend und strikt war nie der Text, sondern der Gedanke vom Text – am überzeugendsten waren die Aussagen in fremden, unbekannten Sprachen. Natürlich gab es einen Text, aber ein Textbuch war kaum zu sehen – es ging immer um die Person, um die Aussage, um die Meinung, um die vereinbarte Idee dahinter und ‘da-hin’.
Die Aussagen, auch jene des Textes, wurden so angenommen wie sie kamen, immer aber mit der Achtung und Möglichkeit, dass sie vielleicht noch gar nicht abgeschlossen waren – immer so offen, dass noch eine weitere Wendung dazu kommen könnte. War das eine einverleibte Folge der vielen, gelebten Mehrsprachigkeiten? der ‘vielseitigen Öffnungen’?
Schön waren die Tage, die wie aus dem Nichts entstanden – keine Organisation war spürbar, viel Achtsamkeit wurde gelebt.
7. Juli 2022, DIE ZEIT Nr. 28 – Feuilleton
Der Meister des Doppellichts
Zum Tod des großen Theaterregisseurs und Menschenforschers Peter Brook. Von Peter Kümmel
* 21. 3. 1925 † 2. 7. 2022
Das Theater, sagte Peter Brook einmal, eröffne allen Beteiligten die Möglichkeit, im selben Augenblick zwei völlig gegensätzliche Erfahrungen zu machen: zu glauben und nicht zu glauben. Der Schauspieler glaube absolut an die Figur, die er gerade spiele – und zugleich glaube er nicht im Mindesten an sie. Das gelte auch fürs Publikum: Es sei gebannt von den Geschehnissen auf der Bühne und wehre gleichzeitig die Ellbogen und die Grippeviren der Sitznachbarn ab.
Auf dem gleichzeitigen Glauben und Nichtglauben beruhe alles. Das Theater, dieses Institut der Doppelbelichtung, so Brook, liefere ein wahreres Bild vom Leben als das Leben selbst.
In der Unschärfe der Doppelbelichtung schwebte auch er selbst, der von lettischen Einwanderern abstammende gebürtige Londoner Peter Brook: einer der größten Theaterregisseure, ein Repräsentant jener Zeit, als die Bühne noch der maßgebliche Ort der menschlichen Selbstdarstellung war. Ein Unsterblicher dieser an ihrer Spurenlosigkeit verrückt werdenden Kunst.
Andererseits misstraute er den Kulten dieser Kunst. Er lehnte es ab, große Theater in seiner Heimat zu leiten und zum Star der britischen Bühnenkunst zu werden (wie es sein Zeitgenosse Peter Hall tat). Stattdessen gründete er, nachdem er im englischen Theatersystem bahnbrechende Inszenierungen geschaffen hatte (beispielsweise vom Marat/Sade und von der Ermittlung des Peter Weiss und von Shakespeares Maß für Maß und dem Sommernachtstraum), eine internationale Truppe, mit der er um die Welt zog und die in einem auf Tarkowski-artige Weise verwitterten Theatergebäude im Norden von Paris, dem Théâtre des Bouffes du Nord, ihr Hauptquartier hatte. Schon sehr früh, lange bevor es Marketing-Konvention wurde, besetzte Brook dieses Ensemble colour-blind, also ohne auf Herkunft und Hautfarbe der Darsteller zu achten. Er nannte seine Kunst colour-rich, sinngemäß: aus dem Reichtum der Ethnien schöpfend.
Er ging auf Reisen, weil er zu Hause nicht weiterkam. Die Entwicklung der Darstellungsformen sei ausgereizt, sagte er mir vor einigen Jahren in einem Gespräch am Rande eines deutschen Festivals, bei dem er gastierte, der Ruhrtriennale, und an »Inszenierungen« – er sprach das Wort mit Widerwillen aus – habe er das Interesse verloren: »Jede Popgruppe treibt die Darstellungsformen bis an die Grenzen, da gibt es keine Überraschungen mehr. Die letzte Überraschung auf dem Theater bereitet das handelnde menschliche Wesen.«
So wurde das Theater ihm zum Mittel, das Leben zu lernen. Das Wissen anderer Kulturen und versunkener Reiche nannte er einen Vorrat an potenzieller Hilfe für uns Heutige. Namentlich von den Afrikanern lernte er; dort existiere eine hoch entwickelte Architektur des menschlichen Zusammenlebens, von der die Europäer keine Ahnung hätten. Der Westen bewege sich kulturell abwärts, wir seien diejenigen, die der Hilfe bedürften. Wer auf andere zugehe mit dem Bewusstsein »Wir wissen mehr als ihr«, der wisse gar nichts. »Die richtige Botschaft lautet: ›Ihr wisst mehr als wir – helft uns!‹«
Sein berühmtestes Werk ist keine Inszenierung, sondern ein Buch, oder eigentlich: ein Buchtitel. Der leere Raum – so heißt Brooks Essay über die Essenz des Theaters, letzten Endes: über den nackten, fragenden Menschen, der sein Leben aufs Spiel setzt. Der Titel ist – ohne Schuld des Autors – zu Ideal, Chiffre und Klischee des Theaters unserer Zeit geworden, denn der kulissenlose, leere Raum ist die gängige Bühne heutzutage. So hatte Brook es aber nicht gemeint. Seine Bühnen wirkten wie Wüstenrastplätze, an denen Teppiche ausgebreitet worden sind. Keine Endpunkte, sondern Stationen. Voilà, das ist unser Lager, bespielbar für eine Nacht und zu betreten auf leisen Sohlen.
Das Beduinentheater Peter Brooks ist sich des Sandes und des Windes bewusst, die über alles Menschenwerk hinweggehen. Es macht beide, Sand und Wind, zu Verbündeten. Es setzt keine Denkmäler, es legt Spuren. Und es kommt flink voran; es bewältigt auch die kompliziertesten Geschichten, ehe der nächste Sandsturm beginnt.
In seiner Inszenierung The Man Who (nach Oliver Sacks’ Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte) wird das menschliche Gehirn zum Objekt der Raumforschung: Wie ein glühender Planet ist es in der letzten Minute des Abends auf einem Fernsehmonitor zu sehen. Alle Szenen, die davor gespielt wurden, sind ganz simpel und wagen das Höchste: Es sind Versuche, das Wunder dieses unglaublichen Organs zu verstehen.
Zuletzt sei eine Szene aus seinem Pariser Hamlet (2000) erwähnt: Hamlet (Adrian Lester) führt vor dem Mörder seines Vaters ein Kriminaltheaterstück auf, Die Mausefalle, weil er den zuschauenden Täter, seinen Onkel, überführen will. Der Pariser Hamlet betrachtet die Vorführung aber nicht vom Rand aus, nein, er kriecht mit brennender Kerze auf die Bühne, mitten unter die Spieler: kein Ermittler in einem Mordfall, sondern ein Forscher, der einen viel größeren Mechanismus untersucht.
Im Grunde war Peter Brook selbst dieser Hamlet. Einer, der loszieht und – im Doppellicht der Bühne – verstehen will, wie alles geschah. Jetzt ist er in Paris gestorben. Er war 97 Jahre alt.
Mit bestem Dank an © Peter Kümmel, DIE ZEIT