Gian. 75. Bilder und Theater
von Paul Steinmann
Als Theaterautor habe ich einige Male mit Gian zusammengearbeitet. Dabei habe ich immer wieder wahrgenommen, dass Regisseur Gianotti meinen Text grundsätzlich erst einmal ernst nimmt. Oft hat er in den Szenen und Geschichten, in den Dialogen und Figuren meines Textes Ebenen und Gedanken gefunden, die mir selbst beim Schreiben gar nicht so aufgefallen waren. Gian hat mich animiert, in gewisse Richtungen noch weiter zu gehen, weiter zu denken, weiter zu schreiben. Seine Assoziationen beim Lesen und Inszenieren meiner Texte – z.B. in religiöser, kultureller, emotionaler Richtung -, haben das Geschriebene aufgewertet und reicher gemacht.
Ich habe mit Gian ein Gespräch geführt, ihm ein paar Fragen gestellt und seine Antworten und Ausführungen über das Malen von Bildern und das Inszenieren von Theater notiert.
Wenn man Gian etwas fragt, erhält man immer eine Antwort.
Ein kluge,
eine mit Beispielen,
eine, in der seine Lebenserfahrungen mitschwingen.
Gian kann herrlich plastisch erzählen.
Zu Beginn erzählt Gian die Geschichte vom verpassten Zug in Wien.
Der falsche Abgangs-Bahnhof!
Die Taxifahrt zum ‘richtigen’ Bahnhof und das rote Licht des sich entfernenden Zuges.
Knapp verpasst.
Als Zuhörer ist man mittendrin in der kleinen Katastrophe
und lacht mit ihm,
dem Erzähler,
und leidet mit und schüttelt den Kopf und vergisst,
dass man hier ist, um Anderes zu besprechen:
zum Beispiel über Bilder und Theater.
Gian wäre nicht Gian, wenn er aus jenem Erlebnis mit dem falschen Bahnhof nicht etwas Allgemeingültiges für das Leben herauslesen könnte.
Es war mühsam, wie es eben manchmal ist, aber auch witzig und irgendwie spannend.
Leben eben.
Natürlich,
sagt Gian,
merke er, dass er älter werde.
75.
Aber die Gesundheit sei noch da und die Kraft und die Lebenslust.
Es fehle an nichts.
Und wo er mit seiner Liebsten wohne, das sei ein Paradies.
Er brauche keine Reisen.
Die Reisen geschähen in ihm drin.
Beim Lesen.
Beim Malen.
Beim Denken.
Beim handwerklichen Tun.
Beim Steine schichten im Garten.
Dass man älter wird merkt man auch daran,
dass rundum Leute sterben.
Es kommen viele Todesanzeigen ins Haus.
Menschen, die sagen: jetzt ist gut. Machen wir Platz für andere.
Gian nippt am Tee und sagt:
er wolle einfach ernst genommen werden mit dem, was er mache.
Als Maler und als Theatermann.
Er möchte über seine Bilder und über das,
was auf der Bühne geschieht,
ernsthaft sprechen können.
Ohne sagen zu müssen: so und so ist es und nicht anders.
Divergenzen müssen sein.
Gian malt.
Er ist ganz in seinem Mal-Raum und malt.
Gian bleibt dran.
Er ist ganz drin.
Manchmal vergeht die Zeit schnell
und die Stunden
Kommen und gehen.
Er weiss nicht wie.
Manchmal vergehen die Minuten kaum.
Die Farbe will nicht auf das Bild.
Er weiss nicht warum.
Oft fliesst es, oft harzt es.
Gian weiss nicht, wieso.
Aber er weiss, dass das wichtig ist.
So und anders und so.
Gian inszeniert.
Er ist ganz im Stück drin und inszeniert.
Gian bleibt dran.
Er ist ganz drin.
Manchmal vergeht die Probe schnell
und die Stunden
fliegen.
Er weiss nicht wie.
Manchmal vergehen die Minuten kaum.
Und was er vorbereitet hat,
der Regisseur,
am Schreibtisch,
wird plötzlich öd und leer.
Oft fliesst es, oft harzt es.
Es gibt Gründe.
Gut, wenn man sie findet, benennt und klärt.
Nicht immer gelingt es zur Zufriedenheit aller.
Gian hat immer seine Geschichte mit dem Bild.
Und die behält er (meistens) für sich.
Sie ist im Bild drin – für ihn.
Und wer ihn gut kennt, kann vielleicht erahnen,
was das für eine Geschichte sein könnte.
Wer ihn nicht gut kennt,
den Maler Gian,
könnte eine eigene Geschichte finden.
Wer seine Bilder ernsthaft betrachtet
wird eine eigene Geschichte finden.
Was Gian schätzt:
allein vor dem Bild stehen und es gestalten.
Mit Pinsel und Farbe.
Das Bild entstehen lassen.
Die Hand locker.
Sie führt aus, sie tut.
So oft und so lange wie nötig.
Bis zu dem Punkt, wo die Qualität stimmt.
Wo es nichts weiter mehr braucht.
Es dann noch besser machen zu wollen, kann das Bild vermiesen.
Beim Malen ist der Absturz nah.
Plötzlich erkennt der Maler Gian: das war zuviel.
Unnötig.
Das Bild hat seine Qualität verloren oder gar nie erreicht.
Was aber nicht heisst, dass Gian das Gemalte wegwirft.
Er erkennt im guten Fall,
dass sich eine neue Spannung ergeben hat.
Auf die Unterschiedlichkeit angesprochen:
Theater ist Moment.
Ein Bild ist etwas, was den Moment überdauert.
Und für Gian ist beides gut und wichtig.
Gian liebt den doppelten Boden.
Er will, dass seine Gedanken,
seine Bilder,
seine Inszenierungen andere zum Denken,
zum Gedankenmalen und -inszenieren,
anregen.
Räume öffnen und zum Klingen bringen.
Und dann entsteht so,
aus einer künstlerischen Produktion,
eine neue Bedeutung,
ein anderes Angebot für jemanden,
der/die das anschaut, dem zuhört.
Ein gutes künstlerisches ‘Produkt’ hat Hintergedanken,
Untergefühle,
Übertöne.
Bietet Klangräume,
die man sich öffnen kann,
in die man hineinhorchen kann.
Gian sagt, er wolle nicht irgendwas machen.
Was Zufälliges? Nein.
Er will mit einer Idee eine Stimmung prägen.
Aber die/der Betrachtende muss dann diese Idee schon selber finden.
Oder angeregt werden, darüber nachzusinnen.
In seiner abstrakten Malerei möchte Gian
genügend Einstiegsmöglichkeiten bieten,
damit man sich als Betrachter/in damit beschäftigen kann
um eigene Visionen, Erlebnisse und Stimmungen zu finden.
Dann wird das Bild ihr/ihm wichtig.
Wenn die Betrachter/innen Freude haben,
berührt werden von einem Konflikt,
einer Lösung, einer Last oder einer Hoffnung,
dann ist das Bild, die Inszenierung für Gian gelungen.
«Dann bin ich glücklich.»
Nicht, weil er mit seiner Arbeit beweisen will,
dass er ‘recht’ hat,
sondern als Einladung eine Einsicht zu gewinnen,
einen Wert zu schätzen,
eine Stimmung als Qualität wahr zu nehmen.
Gian sagt:
«Ich will schon recht haben
und meist habe ich auch recht,
bis ich eingestehen muss
– nach langem Leiden –
ich habe doch nicht (ganz) recht.»
Das Ende dieses Prozesses,
diese Reibung an Gedanken und Intuitionen
ergibt dann aber doch ein Resultat.
Etwas, was man nicht vorausgesehen hat.
Eine Gegenfarbe, die gefehlt hat,
und nun bewirkt,
dass ein Bild wirklich zu überzeugen vermag.
Gian sagt,
er wolle sich als Maler nicht mit Sachen abgeben,
die man betiteln kann.
«Der Alte am Stammtisch» oder «Der Hund und die Katze».
Er will nicht einen Titel für etwas,
was man eh sieht.
Seine Bilder sind nicht Abbilder von Tatsächlichem.
Sie sind vielmehr eine ‘Dokumentation’ von etwas,
was ist,
was er aber selber oft selber gar nicht kennt und benennen kann.
Gian ‘dokumentiert’ also mit seinen Bildern
(auch auf der Bühne)
jene unbekannten Gedanken,
die die Betrachtenden haben (können).
Gian geht beim Malen
und beim Inszenieren
auf die Suche nach Aussagen.
Nach Konflikten.
Nach einer Idee, die er angehen, umsetzen will.
Nach einer Thematik, die er kommentieren oder für sich aufschlüsseln möchte.
Das könnte er auch mit einem
Begleit-Text oder einem Bilder-Titel begrifflich erklären,
aber das würde Betrachtende wohl zu sehr einengen.
Gian möchte einladen,
selber nachzudenken,
selber einen Text oder Titel zu fertigen,
selber zu assoziieren.
Dem Bild so ein ‘Daheim’ zu geben.
Eine Inszenierung
entsteht nicht (wie ein Bild) im stillen Kämmerlein,
sondern mit der Auswahl des Textes,
dem Gespräch mit der/m Autor/in,
den Proben mit den Spielenden,
den Anweisungen an die Technik,
der Auseinandersetzung mit Bühnenbild-, Musik- und Kostüm-Verantwortlichen.
Und im Bewusstsein,
dass es ein einzuhaltendes Budget gibt,
eine Erwartung des möglichen Publikums
und schliesslich auch die Erwartung an die Leistung des Regisseurs Gian Gianotti.
Im Theater ist der Mitmensch
und die ganze Infrastruktur gross:
der ganze Ablauf,
alle Erwartungen der mitmachenden Partner:innen,
der Vorgesetzten,
der ‘Untergebenen’,
der Schauspieler/innen,
die wieder Zuschauende haben,
die wiederum eigene Interessen verfolgen,
ihre Sicht vielleicht bestätigt haben möchten,
applaudieren wollen,
rechtzeitig nach Hause gehen wollen.
Eine Theaterprobe beginnt oft mit der Frage:
was ist gestern, vorgestern, letzte Woche passiert?
Und was könnte jetzt geschehen?
Könnte etwas aufbrechen?
Und wenn etwas aufbricht – wie geschieht das?
Kann er als Regisseur dieses Aufbrechen sogar lenken
– in eine gute Richtung?
Wie kann man die Energie des Aufbrechens für die Inszenierung nutzen?
Und dann gibt es Schauspieler/innen,
die sich einfach weigern,
den zu spielenden Text kennenzulernen.
Ihn nicht lernen,
nicht platzieren können (wollen)
– und haben tausend Ausreden,
um sich nicht mit dem Text beschäftigen zu müssen.
Mit seinem Hintergrund,
seinem Klangraum,
dem Echoraum hinter den Wörtern,
den Gedanken hinter der Sprache.
Theater:
Die Menschen einladen
und Solidarität zeigen,
auch im Konflikt.
Nicht blossstellen.
Aber manchmal muss man als Regisseur auch Nein sagen!
Jetzt nicht so!
Noch nicht so!
Und: nicht aufgeben!
Natürlich spielt das Theater
auch eine wesentliche Rolle
bei der Formulierung von Gedanken.
Aber im Umgang mit Menschen besteht die ‘Gefahr’,
dass der Gedanke verloren geht,
weil man oft in das ‘Mitmenschliche’ hineingerät.
Dann kann es geschehen,
dass man jemanden (z.B. ein Publikum) überzeugen will,
dass man recht haben will.
Und Rechthaberei ist
kein guter Ausgangspunkt für eine Behauptung.
Rechthaberei verbaut die Einladung,
selber nachzudenken.
Die Energie kommt aus der Energie, die man gibt.
Das ist beim Malen und auch in der Theaterarbeit so.
An einem schlechten Tag
hört Gian nach zwei Stunden auf mit Malen.
An einem guten kann er 10, 15 Stunden dranbleiben.
Und merkt nicht mehr,
dass der Mittag schon längst vorbei ist.
Man kann beim Malen im Alleingang
(man drückt selber auf die Tube)
etwas behaupten und warten,
bis man bestätigt wird oder sich hinterfragen kann.
Und ändern muss.
Oder bis man merkt,
spürt,
weiss,
so kann das Bild stehen bleiben.
Das ist bildende Kunst.
Gian sagt: «Und dafür bin ich selber und allein verantwortlich.»
Wenn es gut läuft beim Malen,
ist es gut.
Wenn es harzt,
dann harzt es eben.
Das Gute ist:
Maler Gianotti hat keinen Druck, keinen Termin, muss nichts abliefern.
Er kann die Zeit, die Zukunft selber gestalten.
Er muss niemandem etwas beweisen.
Nur sich selber möchte er noch ein paar Sachen beweisen.
Zum Beispiel die Lockerheit erlangen,
ein Wort oder einen Strich so zu platzieren,
dass man merkt: das stimmt.
«Das Wort, das Farbe bekennt»
wäre der Titel eines Texten,
den Gian Gianotti noch schreiben möchte.