Helmut Jaekel 6.2.2024
Lindenstrasse 10
8354 Dickbuch
zu Dickbuch im Jahre 2023, und früher
Lieber Gian,
getreu dem Gedanken folgend:
«Bedenke wohl die erste Zeile, dass deine Feder sich nicht übereile.»,
bedarf es, wie so oft, Goethscher Formulierungskunst, um den ersten Gedanken zu formulieren, einen Brief zu verfassen, der schon Jahre früher geschrieben, auf Papier gebracht und schlussendlich abgeschickt werden sollte.
Doch verweilte er im «Gedankenschloss» und erreichte den Adressaten nicht. Auch gilt die Ausrede nicht, dass er gar auf dem Weg verloren gegangen sei, wie vielleicht noch zu Goethes Zeiten, als der «reitende Bote» sich anschickte, die Depeschen, versiegelt und zu «treuen Händen» zu befördern und zu übergeben.
Nehmen wir mal an, das Pferd des Boten hätte gelahmt. Und als er sich, schon die Thur, Andelfinger Wälder und Höhenzüge hinter sich gelassen, den Blick frei auf den friedlich daliegenden Ort Diessenhofen, kurzerhand dazu entschloss, vor der Überquerung des Rheins, zur Stärkung von Seele und Geist, die vorzügliche Schweinskopfsülze im Wirtshaus «Zum goldenen Hirschen», nebst einiger Humpen Fassbier, einzunehmen.
So verpasste er die letzte Fähre über den Rhein, versank mit laut-starkem Gegrunze in tiefsten Erholungsschlaf und bemerkte nicht, wie ihm Brief und Posttasche abhandenkamen. Kein Wunder, dass das wichtige Schreiben nie sein angestrebtes Ziel in Dörflingen erreichte.
Eine schöne Geschichte, wenn auch erfunden und noch weniger brauchbar für eine gelungene Ausrede.
Und dennoch, um was sonst geht es uns, wenn nicht ums Erzählen, ums Phantasieren, ums Erfinden, wenn wir über das Theatermachen nach-denken, philosophieren; um zu unterhalten, mit den Mitteln des Theaters.
Schon so ein Brief ist «geschriebene Unterhaltung» (G. Balthasar), wenn er auch in diesen Zeiten bevorzugt per A-Post, e-mail oder sozialen Medien verschickt worden wäre. Ohne Pferd und Schweinskopfsülze.
Wenig romantisch.
Zum Kern des «Pudels». Der Zeitpunkt, unmittelbar nach unserer gemeinsam getanen Theaterarbeit, hätte ein Garten für Reflexion, Rückbesinnung, vieler Gespräche und Briefe sein können.
Jedoch: Erste Chance vertan.
Nun zehn Jahre später, mit erweitertem Blickfeld und mit der Distanz, verringert sich dennoch der Abstand und schafft zusätzlich grosse Nähe. Absurd? Mitnichten. Das Wissenspaket über uns türmte sich auf im Laufe der Zeit, die Genauigkeit beim Hingucken schärfte die Konturen, der «Blick hinter die Kulissen» verband Geschichte und Gegenwart.
Erklärend. Erhellend. Verstehend.
«Mephistos Geist» spukte noch in uns und die «Magie des Theaters» hatte uns für eine Weile verbunden, verband unsere Theaterleben.
Du, dem Theater Winterthur abhandengekommen, Direktor seit gut einem Jahrzehnt, ich Freivogel im Betrieb der Eitelkeiten. Wir, in Gedankenverbundenheit verknüpft, gemeinsam auf einer Suche, vielleicht nach Verlorengegangenem, Liegengebliebenen. Wir kannten uns erst kurz.
Beim Blättern in zurückliegenden Jahreskreisen bestätigte sich der Verdacht, dass nicht nur die periodischen Zeitschienen sich überdeckelten, sondern auch die Substanzen, wenn es um das Füllen und Erfüllen unserer Hingabe für die theatralischen Musen ging.
Theaterbiografien folgen oft wiederkehrenden Schemen: Schultheater, Hospitanz, Assistenz, Ambitionen, eigene Wege, gelegte Spuren,
«…entscheiden fürs Lernen, wie man lernen konnte…» (G. Gianotti).
Das Lernen fürs Handwerk zum Spielen. Vonnöten. Klar. Das Erlernen des Abguckens und Nachmachens fordert «…beobachten, zuhören, erzählen, lernen lernen…» (G. Gianotti). Und wenn es sich dabei um Hebammen-Ikonen, wie Giorgio Strehler, Peter Palitzsch, Peter Zadek und andere handelt, umso besser. Unterschiedlicher konnten die Zukunftsstrategien nicht daherkommen.
Dein Süden war mein Norden, aber nur, weil Bayern nördlich von Graubünden oder Mailand liegt.
Wir trafen uns nie, obwohl wir im gleichen Kosmos unterwegs waren.
«Mach mal!» hiess es im Süden wie im Norden. Und wir machten.
Mal hier, mal da, grossformatig, kleinkünstlerisch, regional, grossstädtisch, kleinkrämerisch. Angekommen im Jahrmarkt der Eitelkeiten. Gelobt, gefeiert, verdammt, ignoriert.
Wir bemerkten Veränderungen zwischen dem, der macht und dem, der zuschaut. Die Muse biederte sich Retorten-Kunstfabriken an, sie ergab sich dem Spektakel, vollgespickt mit stilistischen Diebstählen alternativer Medien. Die Austauschbarkeit hatte Konjunktur. Effekthascherei erprobte ein Aufmerksamkeitsdefizit mit noch mehr «spectacolo» einzufangen.
Schauspieler suchten Antworten für ihr Tun, schauspielerten als Mittel zum Zweck.
Regisseure verloren die Aufmerksamkeit zur geistigen Auseinander-setzung. Inhalte, Texte, Autoren und deren Absichten versanken in der Kommunikationslosigkeit persönlicher Egoismen.
Die Intelligenz ging dem Theater verloren. Egozentrisches Vorzeigen zog in die Säle ein.
Ich stieg aus. Du etwas später.
«Ich wollte sie… (die Texte) vorzeigen, auslegen, darlegen, damit spielen.» (G. Gianotti). Das ging nun nicht mehr. So nicht mehr.
Du wurdest mit der Ablehnung zur geistigen Auseinandersetzung konfrontiert und mit dem Verlust der Deutung von Texten und deren Inhalten.
Und dennoch. Wir beide blieben dem Metier erhalten.
Zur Rettung der letzten verbliebenen, noch nicht verblühten Pflänzchen, durchpflügtes Du die internationalen Theatergärten und sätest Setzlinge in die Köpfe und Herzen der Winterthurer Theatergänger. «Theater im Dienste anderer.» (G. Gianotti). Zwar mit weniger eigener Impulskraft und Kreativität, aber mit viel Erfolg bei den Hinguckern, Zuhörern, Mitdenkern. Es hielt dich viele Jahre in Schwung.
Und auch diese Ära endete.
Wir trafen uns zum ersten Mal.
Ich wollte Solo sein auf der Bühne, in kleinem Rahmen, mit dem «Requisiteur», einen Bühnenalltag reflektierend, Theaterleben zeigen und suchte für die Realisation eine ordnende Hand. Ich fragte Dich.
Du misstrautest der Oberflächlichkeit und Plakativität des Vorliegenden, vielleicht auch dem fragwürdigen Erfolg desselben, sagtest aber nicht ab, sondern sinngemäss, «das können wir auch und besser». Nun gut.
Gemäss unserer beider Lebenssituationen «…der Beifall war enden-wollend…» (Torberg), verschwanden wir im Topf der Anekdoten, die die Theaterkantinen noch heute köcheln und ausspucken, um selbstironisch, aber auch selbstverliebt, vermeintliche Theaterinternas auszuplaudern. Anekdoten spiegeln die Verletzlichkeit des Betriebes wieder, durch die Jahrhunderte hindurch, vollgespickt mit Ironie, Häme, Intrige.
Kein Wunder, wenn auf diesem Weg die Darstellung von Klassikern, speziell dem «Faust», der Spott und Neid nacheilt, um persönliche Abrechnungen zu begleichen. Theater in seiner reinsten Form. Es menschelt. Auf und hinter der Bühne.
Folgerichtig stand auch Goethe und sein Faust, den wir beide sehr schätzen, auf dem Beipackzettel und musste mit eingenommen werden, gewissermassen als Kontrastprogramm zum platten «Kalauern».
Es ergab sich der erste Arbeitstitel «…der Beifall war endenwollend…» und die Idee, den «Faust» zu proben und dabei den Wandel, die rauschhaften Selbstüberschätzungen und verklärten Auswüchse literarischer Interpretationen in die tägliche Theaterarbeit einzupacken.
Und so blickten wir mit Goethe in den Sternenhimmel, kletterten auf den Brocken und beantworteten mit den Worten eines Kollegen die Frage: Was er denn am Burgtheater gelernt hätte mit: «G`lernt hab ich nix, arrogant bin ich g`worden.»
Unser Vorgehen war luxuriös. Kein Zeitdruck. Keine institutionellen Vorgaben. Keine geistigen Beschränkungen. Freies Denken.
Jeder von uns recherchierte, formulierte in eigenen Fassungen, um dann im gemeinsamen Austausch die literarischen «Fetzen» zusammen zu- fügen. Aus filigraner Sprachakrobatik bedurfte es bis zur ersten sinn-gebenden, spielbaren Vorlage mindestens acht Fassungen, an- und ausgefüllt mit wortreichen, hintergründigen, beharrenden, verstehenden, nachgebenden Expertisen, die uns erst auf die verdächtige Spur brachten, dass «Mephisto» überall seine Finger im Spiel haben musste.
Im wahrsten Sinne des Wortes. Er zieht überall die Fäden, motiviert, intrigiert, täuscht, legt falsche Spuren, erpresst, steht für das «Böse» schlechthin, das Verwerfliche, Hinterhältige, Schlaue, Erotische, aber auch Poetische und Träumerische. Und immer geht es um Macht.
Es ist der Geist dahinter, der mephistophelische Impetus, der uns überheblich, übermenschlich, machtübergreifend werden lässt.
«Mephistos Geist» im literarischen Vorbild «Faust», im Probenbetrieb,
im täglichen Leben schlechthin, eine Symbiose von menschlichem Tun.
Welch theatralischer Einfall. Welches Geschenk für die Gedanken dahinter oder den «Subtext», wie es bei uns so schön heisst, welch wunderbare Ideenwelt für die praktische Theaterarbeit und den Prozess des Zeigens, Vorzeigens, Erkennens und Verstehens. Ein neuer Titel.
Auf in die Proben.
«Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Es sollte stehen: Im Anfang war die Kraft!
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!»
(Faust 1)
«Mephisto`s Geist«, eine Theaterprobe zu «Faust» und die Erkenntnis, dass der Beifall irgendwann einmal endet.
Der Beginn unseres Tuns setzte sich fort. Nicht selbstverständlich.
Das Geschriebene nahm Gestalt an; Bühnengestalt. Das Ringen um Genauigkeit, Verständlichkeit, das Suchen nach Mitteln, Theatermitteln, das Ergänzen, das Verzichten, das Erkennen Peter Brookscher Einfachheit und dennoch Erlangung transportabler, komplexer Gedankenstränge, die Idee von intellektueller Anmassung und nachvollziehbarer Einfachheit, lustvoll, ernsthaft, mit Wehmut, mit Freude, es hielt an und füllte, erfüllte die Vormittage, Nachmittage und Abende.
Wir glaubten, etwas wiedergefunden zu haben, was uns verlorengegangen
war; der Ausgang und das Wesen unseres musischen Schaffens. Es erfüllte uns, schuf die Erkenntnis; es geht doch.
Ein Kuss von der Muse Theater.
«Bin die Verschwendung, bin die Poesie,
bin der Poet der sich vollendet,
wenn er sein eigenst Gut verschwendet.» (Faust 2)
Wir hielten uns daran. Das Ringen um Lösungen, gestritten, erstritten, das Hören, Zuhören, das Sehen, Hinsehen, Auslassen, Einlassen.
Der Respekt vor Vergangenem, der Respekt vor Heutigem. Der Respekt voreinander.
Der Beifall konnte enden, das Ergebnis eines theatralischen Prozesses nicht. Die Zeit war der Prozess, das Miteinander, das Erfülltsein im Probenalltag. Die Premiere musste kommen, sie kam, sie war nicht mehr das Wichtigste.
Und auch das gehört zur Wahrheit dazu, dass der Aufruf zu «schaudas-spiel« von den Resonanzböden nur verhallten zurückechote, aber da sich unsere Definition von Erfolg schon längstens vom …»schneller, höher, weiter…» verabschiedet hatte, beschrieb unsere Bilanz viel eher den Werdegang, das kreative Wachsen und Gedeihen, die persönlichen Humusböden, die gemeinsame Zeit, das Denken, Scheitern inbegriffen, das Wissen um den Prozess als Erfolg.
Ich sehe das so. Es hat mich versöhnt mit der Anfangsbegeisterung für ein Leben zwischen Beruf und Berufung. Es hat mich versöhnt mit dem Hader und Zweifel und dem Missverstanden werden und Herumstehen auf den Brettern, ohne zu begreifen, warum ich herumstehe.
Regisseur: «…der Tisch trennt sie ein wenig von uns. Der Tisch verfremdet sie…» Antwort Schauspieler: Bittschön,…sagens das doch dem Tisch.» (V.Huber)
Ich suchte und fand Substanz, Fantasie, Dialog, Streit, das Entdecken und das Entstehenlassen. Ich fand die Zwischentöne, gedanklichen Ebenen, Widersprüche, Höhenflüge, surfen zwischen den Welten.
Ich fand, es war eine erfüllte Zeit, eine dankbare Zeit, eine gute Zeit mit Dir.
Nach dem Premierensekt zieht das Theatervolk meist weiter, der Blick verliert sich, der Scheinwerfer leuchtet woanders. Bei uns nicht.
Nichts mit Ruhestand. «…Wenn selbst die Ruhe schon steht…» (Mephisto`s Geist). Was kommt dann? Allenfalls treten wir ab.
Wir trafen uns (erst) nicht.
Wir kannten uns erst kurz.
Wir trafen uns.
Wir treffen uns noch immer.
Es tut gut.
Und nochmal Theater:
(Engel schwebend in der höheren Atmosphäre)
«Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen.
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.»
(Faust 2)
Es dankt, umarmt und grüsst sehr herzlich
Helmut
«…der Geist der nicht verneint,
weil alles was entsteht,
ist wert, dass es fortan besteht.»
(frei nach Goethe)