Gedanken an Heiner Müller

 

Nach Heiner Müller, 2005 – zum 10. Todestag

 

Ich will gestalten
festhalten und verschwinde im Nichts.

 

Er kam uns entgegen. Er war herübergekommen zum Gespräch … und sass nun zwei Personenplätze von der Ecke entfernt, gesprächsbereit, offen und neugierig … wissend um die Kürze der Begegnung, wissend, dass aus Kürze Länge entstehen kann. Heinar Kipphardt hatte das Treffen “organisiert” und er sass da, ihm gegenüber, sein rechter Arm wie so oft über den Kopf gelehnt und beide plauderten Wesentliches vor sich hin, an uns vorbei und uns über Umwege erst Jahre und Beschäftigungen später erreichend. Theatralisches, Menschliches, Nachbarschaftliches.

Es war 1982 im Mai, lange nach der ideologischen Trennung und noch sehr lange vor der wirtschaftlichen Wiedervereinigung … und das Gespräch war eine Begegnung, nichtig und relevant zugleich. Nichtig weil das real Gesagte sofort nach dem Gespräch mit ganz anderem Inhalt zum Thema austauschbar gewesen wäre und relevant weil das Denken an sich im Moment stattfand, assoziierend über Theater und Gesellschaft: da sass bewunderte und relevante DDR-Literatur mitten unter uns und Heiner Müller dachte freundschaftlich in seine genüsslich gepflegte Rauchwolke hinein, eher für sich und mit Kipphardt als mit uns jungen Theaterschaffenden beim Berliner Theatertreffen. Er hielt was von ihm gewünscht und definiert war und er ging dann wieder die paar Schritte hinüber auf die “Gegenschräge”.

In Erinnerung blieb mir die Art des Denkens, nicht das Wort in der Bedeutung an sich, und das Denken war angenehme Suche nach genauer Kommunikation. Die Stimme und Stimmung eher “underpowered”, so zufällig richtig, wie per Zufall gedacht – wie ein guter Strich von Picasso oder Giacometti, aus dem Handgelenk heraus gesetzt und als stimmend angenommen.

Der so zufällige “Anfang” blieb haften für spätere Beschäftigungen mit seinem genauen Wort: zuerst suchend, abtastend, dann existentiell, schneidend, schmerzend, befreiend. Die nachgelieferte Härte in der dokumentierten Sprache (als Theatertext, als Gedicht, als Gespräch) oder in späteren Begegnungen mit kämpferischeren Formen der Selbstdefinition, als Autor oder als Theatermensch, prägten zum ersten ein zweites Bild – ein gegenüber­gestelltes, aus anderem Kommunikationsbedürfnis heraus entstandenes. Dem ersten spontan zugeneigter, das zweite analytisch begreifend als Äusserung vor dem sich anbahnenden Verlust eines “Ortes”, aus Rebellion gegen den Verlust einer Chance … bis er dann, führend im Gedanken und öffnend in der Sicht schrieb, aus Gegenkraft zur Loslösung aus dem eigenen Sein:

“… Charon. Mit
jedem Pinselstrich/Ruderschlag verliert sein
Passagier an Substanz. Die Fahrt ist das Ziel,
das Sterben der Tod. Am anderen Ufer wird
Niemand aussteigen.” (… Und gehe weiter in die Landschaft)


Irritierend offen, loslassend frei.

 

Gian Gianotti, Theaterregisseur
Künstlerischer Leiter Theater Winterthur.

 

 

Eine besondere Affinität zu Heiner Müller wurde vor allem in folgenden Projekten gefunden:
– Mutter Courage 1983
– In der Sache J.R. Oppenheimer 1988
– Ein Hort, dahin ich immer fliehen möge 2001
– So nah, so fern. Dr ackerman und dr Todt. 2004
– Orfeo, seit 2003