Freed, DIE GRÄFIN

1989     S / D / EA

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Plakat: Domenic K. Geissbühler

Donald Freed:  DIE GRÄFIN SOFJA ANDREJEVNA TOLSTAJA


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Theater Heddy Maria Wettstein, Zürich
Direktion: Heddy Maria Wettstein

Premiere: 14. Januar 1989, 20.30 Uhr
Europäische Erstaufführung in der Übersetzung von Peter Jacobi

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Die Gräfin – Heddy Maria Wettstein
Inszenierung und Ausstattung – Gian Gianotti

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Herstellung der Bühne – Kaspar Wolfensberger
Kostüme – Gina Zeh
Maske/Frisur – Bärbel Czychowski
Musik – Bruno Spörri

Projektoren – Foto Ganz AG
Technische Leitung – Heinrich Kohler
Beleuchtung – Martin Briner, Matthias Hauenstein

 

Übersetzung – Peter Jacobi
Aufführungsrechte – S. Fischer Verlag Frankfurt

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Mein Beitrag zum 25-jährigen Theaterjubiläum:

Als ich für eine Inszenierung für das Theater Heddy Maria Wettstein angefragt wurde, dazu noch für die 25-jährige Jubiläumsinszenierung, da stellte ich mir vor, dass dieses Theater mit seinen Möglichkeiten im Zentrum der Beschäftigung stehen müsse. Thematik, Spielart, und sogar Besetzung sollten irgendwie die Grundidee des „Hauses“ präsentieren, das Spezielle. Die Wahl wurde Richtung „Gräfin“ geführt: Eine europäische Erstaufführung einer interessanten Vorlage, ein Monodrama über eine Standortbestimmung einer 66-jährigen Frau, die in die eigene Beziehung, Kindheit und Lebenserwartungen hineinhorcht. Womit die „Gräfin“ konfrontiert wurde in ihrem Leben, das alles konnte mehr als nur symbolisch gelten für die Rückschau auf 25 Theater-Jahre. Was will ich, wo stehe ich, für wen und warum will ich das Leben leben: das sind Fragen der Textvorlage. Sie könnten aber ebenso gut auch Fragen des Lebens sein mit der gleichen Ich-Bezogenheit, mit der gleichen Bereitschaft, den Lebensinhalt darin zu suchen.

Womit Sofja A. Tolstaja aber “konfrontiert” wurde, das berührt das Zentrum der Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts: Rechte und Pflichte in ideologischer und persönlicher Hinsicht, die ein Mensch gegenüber seinen Mitmenschen hat und respektieren muss, Besitz und Besitzrecht einerseits, Armut, Bescheidenheit und Selbstaufopferung andererseits. Die Auseinandersetzungen im Hause Tolstoj gehören zu den Grundauseinandersetzungen über Sein und Haben, wobei die Begriffe von Besitz und Armut jeweils über die materiellen Grenzen hinaus verwendet werden. Wohlstands-, Kultur- und Identifikationsgefälle spielen in diese Beziehung hinein, wie sie unsere politische Wirklichkeit prägen. Fragen nach welcher Besitzlosigkeit gestrebt werden muss, um welchen geistigen Reichtum zu ermöglichen, welche gefühlsmässige Identifikation in welcher kulturellen Umgebung erst möglich sei, und wie die Interessenslage einer materiellen Existenz zu verstehen sei, ohne dabei die geistige Existenz zu gefährden – das sind alles Vorfragen nach der besseren, respektive besten Ideologie.

Die Fragen nach dem materiellen Recht und nach der Chancengleichheit sind in der neuen politischen Struktur gezwungenermassen früher angegangen worden als jene nach der kulturellen und menschlichen Geborgenheit. Tolstoj mochte mit seinem Wechsel eine neue Verantwortung im Besitzausgleich anstreben – Sofja Tolstaja sich im Besitz verantwortungsvoll zurechtfinden. Tolstoj wollte seine Äusserungen und seine Biographie nicht mehr literarisch abfassen, denn Literatur sei eine schöne Lüge – Sofja Tolstaja sah in der literarischen Arbeit ein Dialog in der Beziehung und eine Einnahmequelle für die wirtschaftlichen Bedürfnisse. Gleichheit ja, sagte sie, aber “warum müssen wir unsere Existenz aufgeben und uns einer Anzahl von Profiteuren unterordnen?” Besitz war für sie eine Existenzfrage und eine Chance, um die Aufgaben im sozialen Bereich im nächsten Umfeld von Jasnaja Poljana zu bewältigen. In der Abwendung Tolstojs von der alten Idee sah sie die Gefahr einer Abwendung vom realen, praktischen Leben – darin inbegriffen auch eine Entfernung von der theoretischen und praktischen Möglichkeit, eine Lebensform mit menschlicher Kultur zu erreichen. Komplex und sehr persönlich können wir hier in dieser Auseinandersetzung die Themen der sozialen und der gefühlsmässigen Gleichberechtigung beobachten. Und diese Kontroverse kann auch nicht vor den Grenzen von Glauben und Religion haltmachen. Welcher Besitz wird zur „Sünde“ und welche Armut wird zum geistigen Tod, das sind die Grundfragen. An diesen orientiert sich Sofia Tolstaja neu in ihrem Leben. Sie muss einsehen, dass sich ihre Wege und jene ihres Gatten getrennt haben, sich haben trennen müssen.

Sofja Tolstaja definiert sich in jener Nacht, in der Tolstoj stirbt, durch sich. Theoretisch verselbständigt sie sich im Gedanken an ihre eigene Zukunft, und geht dann geschichtlich damit unter, weil sie ein Leben lang in der anderen Definition gelebt hatte. Lew Tolstoj, ist in der letzten Zeit seines Lebens unfähig, ein gemeinsames Gespräch mit seiner Frau und somit mit seiner eigenen, früheren Ideologie zu führen. Die gemeinsame Definitionssuche endet für dieses Paar mit dem Tod von Sofja Totstaja, neun Jahre nach dem Tod Lew Tolstojs. Für die Menschheit und für uns wird die Definitionssuche in der Abgrenzung zwischen Sein und Haben noch lange ein Thema bleiben.

Theatralisch Rückschau halten heisst auch, sich vorbereiten für eine Zukunft. Wenn diese die Thematik der Ehrlichkeit, die Beschäftigung mit dem wirklichen Ton einer ganzen Seele beinhaltet, dann kann sie nicht nur eine einzelne Produktion, sondern muss eine ganze Richtung abgeben. Das Gespräch auf diesem Gebiet wäre nötiger denn je, denn “Literatur kann auch eine schöne Lüge sein”…

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Gian Gianotti, Dezember 1988

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Das Programmheft:
>>>  Die Gräfin Sofja Tolstaja       pdf, 27 Seiten

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