HALLEN, Presseberichte

 

 

Schaffhauser Nachrichten    >>>   Gian Gianotti – Kunst und Gespräch, Alexander Vitolic/Bild: Roli Bernath, 13.3.2023
Ueli Redmann    >>>   Mehr als eine Ausstellung – Gian Gianotti in den HALLEN FÜR NEUE KUNST Schaffhausen, 24.3.2023
Schaffhauser AZ    >>>   Der Grübler, Luca Miozzari/Fotos: Robin Kohler, 30.3.2023
LA  QUOTIDIANA    >>>  Dapli ch’ina exposiziun – Gian Gianotti expona, Ueli Redmann/tr. Bartolome Tscharner, 5.4.2023

 

 

 

 

 

Werbekarte HALLEN, der Text

 

 

AUSSTELLUNG in den ehemaligen HALLEN FÜR NEUE KUNST Schaffhausen, Kammgarn West, Baumgartenstrasse 23      3. Stock

Vernissage Samstag 18. März 17.00 Uhr
Ausstellung 19. März bis zum 16. April 2023
jeweils Mittwoch bis Sonntag 16 bis 20 Uhr  und nach Vereinbarung

 

 

An der abstrakten Malerei interessiert mich die Konzentration und Spannung einer nicht gegenständlichen Aussage. Mit der Stimmung und mit dem Farbenspiel definiere ich symbolische “Landschaften” und Frei-Räume.

ATELIER     BILDER     RÄUME     2023

In der AUSSTELLUNG werde ich zwei Wände als ATELIER einrichten, eine gegen Osten, die andere gegen Westen – und da möchte ich während der Ausstellungszeit zwei grossformatige Bilder zum Thema “Morgen” und “Abend” malen und mich dem Gespräch mit dem Publikum stellen.    G

 

Informationen und Veranstaltungen:  www.gianotti.ch/hallen
Kontakt und Nachfragen per Mail an  gian@gianotti.ch  oder  079 358 56 41

 

 

Besten Dank an:

KUNSTVEREIN SCHAFFHAUSEN
JAKOB UND EMMA WINDLER-STIFTUNG STEIN AM RHEIN
GEORG FISCHER STIFTUNG
STADT UND KANTON SCHAFFHAUSEN
THEATER WINTERTHUR
FUNDAZIUN BIBLIOTECA ENGIADINAISA SILS/SEGL MARIA

Stand November 22

 

 

ERSTE GEDANKEN ZUR AUSSTELLUNG, HALLEN 2023

 

 

ATELIER    BILDER    RÄUME    2023
in den ehemaligen  HALLEN FÜR NEUE KUNST  Schaffhausen
Kammgarn West

18. März bis 16. April 2023

 

 

In meiner letztjährigen Ausstellung in Diessenhofen  MUSEUM KUNST+KULTUR  fanden einige Gesprächsrunden statt. Das überaus interessierte Publikum stellte immer wieder Fragen nach der Machart, Arbeitsweise und Atelierbesuchsmöglichkeiten. Diesem Interesse möchte ich gerne in der nächsten Ausstellung in Schaffhausen mit einer  Ausstellung mit Werk- und Gesprächscharakter  nachkommen.

 

DER ORT  hat eine Geschichte und ist in der historischen Kunst-Wahrnehmung in Schaffhausen und in der Schweiz nach wie vor Programm.  Massgebend für die Institution der  HALLEN FÜR NEUE KUNST  in Schaffhausen war das Konzept von Urs Raussmüller aus den 1970er Jahren …

als er:  … “Werke von wegweisenden Künstlern erworben (hatte) – zum Teil ganze Werkgruppen und grossformatige Installationen. Immer wieder hat er auch dazu beigetragen, dass bedeutende Werke entstehen konnten. Um sie adäquat zu präsentieren und ihnen Raum und Zeit für ihre Wirkung zu geben, schuf er neue architektonische und institutionelle Strukturen wie in  Schaffhausen 1984-2014  oder seit 2014 in Basel.” Sehen Sie dazu:   >>>  www.raussmueller.org

 

Die  HALLEN  gehörten in Schaffhausen bis 2014 zum Kapital der zeitgenössischen Kunst, bis sich Stadt und Kanton für eine andere Nutzung der  KAMMGARN WEST  entschieden.

Parallel dazu, am gleichen Ort und im gleichen Jahr 1984 fing mit meiner ersten Inszenierung für das neugegründete “Sommertheater Schaffhausen” mit Nestroys    >>>  FREIHEIT IN KRÄHWINKEL  auch meine direkte Beschäftigung mit der Kultur in der Region Schaffhausen an. In den Hallen hatten wir, “nebenan” im 3. Stock übers Eck, unsere Theater-Werkstatt und den Proberaum eingerichtet. Das Gespräch um die Form und Ästhetik des Theaters und der Kunst (insbesondere im Rahmen der Minimal Art) war da auch bei mir bereits für das Theater und für die Malerei fest verankert und zeigte sich formal immer klarer in den ersten Jahren danach: minimale Kunst – maximale Wirkung – umfassende Klarheit der Aussage. Sehen Sie dazu:   >>>  theaterforum.ch  und   >>>  Profil

Ein konkretes Gespräch und Projekt, das diese Nähe plausibel und weiter nutzbar gemacht hätte liess sich aus “finanziellen Gründen” leider nicht realisieren: Mein Theaterprojekt KASSANDRA 1995 hätte ich gerne anstatt in der “Anwesenheit” des “Chavà da Cassandra” (the White Horse) 1992 von Not Vital in der unmittelbaren Nähe des “Lightning Fire Wood Circle” 1981 von Richard Long neu eingerichtet. Sehen Sie dazu:   >>>  KASSANDRA

 

Was mich in der abstrakten Minimal Art insbesondere interessiert ist die minimal-maximale Spannung im grösseren Ausdruck und Zusammenhang – als Stimmung und Spiel mit optischen Variationen und harmonischer Ruhe. Kunst soll Klärung bringen, wie eine gute Erzählung, spannende Musik oder ein gefühlter Freiraum im Alltag oder im Leben. Freude machen.

 

KUNST UND GESPRÄCH” – das sind die Grundpfeiler, die ich mit der Ausstellung im nächsten März-April in den  HALLEN  mit einer letzten Ausstellung  “AN DEM ORT”  erreichen möchte, bevor sie im Sommer 2023 zu neuer Nutzung umgebaut werden. Klar, “meine Ausstellung” wird nur den obersten der drei Stockwerke “bespielen”, 1’500 m² werden mir genügen – dafür möchte ich neben der reinen  “WERKSCHAU”  zwei Wände (eine gegen Osten, die andere gegen Westen hin) als  “ATELIER” einrichten – da werde ich während der Ausstellungszeit je eine grossformatige abstrakte Stimmungen zum Thema “Morgen” und “Abend” malen (oder zumindest angehen) und mich dem Gespräch mit dem Publikum stellen – und dies im bereits genannten dritten Stock, dem Stock der ersten Annäherung an die Region, und zum anstehenden Übergang in eine  NEUE NUTZUNG.

 

Die Dimension der Gespräche hängt jetzt noch von einzelnen Möglichkeiten ab, die gesucht und gepflegt werden. Mit dem Kunstverein Schaffhausen wurden bereits Publikumskontakte vereinbart, einzelne Künstler und weitere Kunstsparten könnten und sollten noch “zum Gespräch” dazu kommen, ebenso Begegnungen mit malenden Kindern und interessierten Schulklassen.

 

Die  DOKUMENTATION  der ganzen Veranstaltung in Wort, Bild, Video, Internet und Buch oder Broschüre 2023 oder 2024 (zu meinem 75.) wird die Erfahrung mit der  AUSSTELLUNG  und mit der für mich neuen, räumlichen Grosszügigkeit des  ATELIERS  im Tageslicht auswerten.

 

 

Gian Gianotti, September 2022

 

 

 

Zur Entstehung der Freilichtspiele Chur

Freilichtspiele Chur – zum Zwanzigsten

 

Als 1980 die Institution Klibühni Schnidrzumft an der Kirchgasse 14 ins verflixte siebte Jahr kam wurden die Grenzen des Machbaren als einengend empfunden. Die Stimmung im Höfli hatte mit Konzerten, Schauspielproduktionen, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen bereits viele Theaterinteressierte erreicht, die Klibühni versprach weitere Dimensionen, insbesondere sommer-musikalische Perlen, textliche Experimente, feinnuancierte theatralische Annäherungen in Studioform an sommerlicher Theaterneu-gierde. Das Publikum schien die theatralische Dimension unter dem Sankt Martins-Uhrschlag zu geniessen.

Die Macher, wir, empfanden die kleine Perle mit dem grossen Globe-Charakter als angenehm, intim aber auch als naturalistisch verführerisch. Wir hätte weiterhin sehr theaterwirksam und in höchster Publikumsnähe Flöhe abzählen können … aber es drängte uns nach mehr Wirkung, nach mehr Publikum, nach mehr. Ganz einfach nach mehr! Natürlich auch nach mehr Geld – auch wenn wir wussten, anfangen werden wir klein müssen, “bescheiden, demütig”. Dankend und dankbar.

Eine grössere Produktion hatte 1979 eine gewisse Wirkung erzielt, ein “Suppenstein” wurde sozusagen dadaistisch als Freilichtspiel ausgekocht … (leider konnte ich die Produktion nicht sehen, ich war eingeklemmt zwischen einem kleinen Prinzen in Samedan und einem Musical in Danis – und in einem gewissen “Selbstwertbedürfnis” gab ich mich auch nicht mit solchen “unprofessionellen Experimenten” ab). Zum Kochen brachte die Suppe vor allem unseren Wunsch nach “wir auch!”, und so sassen wir zusammen und hegten aus, was die Zukunft uns bescheren sollte. Erträumen hätten wir uns die Dimensionen nicht können – weder der Wir-kung der Projekte noch der dafür nötigen Arbeit.

Das erste Stück war bald vorgeschlagen. Unter der Wirkung einer Regieassistenz bei Strehler war klar, es durfte nur das Beste gut genug sein, ein Goldoni musste her, und warum nicht gerade das Stück mit dem “Er” eben grosse Erfolge gefeiert hatte: “Il Campiello”. Er hatte es venezianisch-dialektal, sprachlich sehr sorgfältig und für die italienische Mundartkultur engagiert auf die Bühne des Piccolo gebracht – wir wollten und mussten es sinngemäss aber nicht weniger engagiert für unsere Anliegen übersetzen. Wir hatten ein Ziel, wir hatten Energie und Lust, also gingen wir an die Ar-beit. Ich unterstreiche indirekt und wissentlich dieses WIR: Robert Indermaur und Albi Brun allen voran, Vreni Sulser, Forti Anhorn, Andi Joos, Markus Nigg und ihre jeweiligen Partner, Freunde und Freundinnen. Und ein potentiell recht dynamischer (wie es sich dann zeigte) “Nachwuchs”. Mitgetragen wurden wir auch vom Stadtpräsidenten Andrea Melchior, der uns “machen lassen wollte” und sich vor allem schützend vor den kritischen “Theaterkoryphäen” stellte, aber das sahen wir erst Jahre später.

Zuerst musste eine juristische Struktur her, und die grösste Zeit der Gründungsversammlung am 27. März 1981 ging für die Frage nach dem Namen drauf: Sollte diese Organisation nüchtern und alles ermöglichend “Verein Freilichtspiele Chur” heissen oder doch ganz einfach “Churer Theater Vorussa”. Die Bezeichnung Freilichtspiel hatte eine historisierende Aura, etwas vom Festspielcharakter war dem in der Praxis und Erfahrung nicht abzusprechen. Trotzdem, es siegte und überzeugte die schlichte Formulierung. Nicht die Theaterwerte der Vergangenheit sollten unterstrichen werden damit, sondern das neue Potential: Theater spielen im Freien. Einiges wurde damit geäussert. Es sollte “Theater” sein ohne Festspieltendenz, keine Historie und Gedenkfeierlichkeiten, sondern “Theater” als Gespräch, als Wort- und Situationsspiel, als Darstellung der Charakter- und Beziehungsnetze. Im Freien, nicht eingeengt von Mauern und kleinen Dimensionen (die grosse Bühne des Stadttheaters war für uns noch “unerreichbar”): das Detail der Theaterarbeit in der grossen Umgebung, die Sorgfalt in der grösstmöglichen Grosszügigkeit. Das überzeugte die Gründungsmitglieder und später das Publikum.

Damit war aber noch kein erster Schritt getan. Die erste Hürde würde sich erst mit dem Realisierungskonzept stellen: Sprache (inklusiv Dialekte), Übersetzung, Musik, Raum. Wie und wo, und wiederum wie und warum … Die Sprache musste möglichst goldonianisch sein, mit dem ganzen Witz der sprachlichen und sozialen Ebenen, musste natürlich deutsch sein aber möglichst italienisch – so wählte man die deutsche Sprache mit weitestgehender italienischer Syntax und fand sich im Bündner und Churer Dialekt goldrichtig (das grösste Lob kam ganz spontan von einer Sekundarschülerin, die nach einer Vorstellung ganz verdattert äusserte: “Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so gut Italienisch verstehe”).

Aber dann und vielleicht typischer in der Ausrichtung dieser neuen Form von Freilichtspiel war die Frage nach der Ausstattung. Es stand früh fest, dass die Aufführungen auf dem Arcas stattfinden sollten, aber wo? Zuunterst im Trichter war die Akustik “interessant”, die Häuser nah, und natürlich dachten wir daran, die Leute aus den Häusern treten zu lassen. Die Türen passten aber (nach den Umbauten) nicht mehr zu den optisch dazugehörigen Fenstern, und ganz banal und praktisch mussten wir merken, dass Theater mit Realität nichts zu tun haben durfte. Ein Dokument ist das Bild von Robert Indermaur, das die Situation am “Gambero Rosso” (Fantasie rund um die Absteige von Pinocchio) definieren wollte und ursprünglich auch für die erste Werbung genügte. Theatralisch mussten andere Dimensionen gefunden werden, so kam man auf die Arena und theatralisierte den Campiello sozial mit Chur als Hintergrund. Das sagt sich jetzt so leicht … jedenfalls die Stimmung war damit definiert und gemacht. Aus den reservierten 15 Vorstellungen (“Ihr könnt wirklich immer nur übertreiben”) wurden fünfzehn ausverkaufte Abende und wir hätten noch einige weitere verkaufen können. Das Budget (“Ihr seid ja wahnsinnig”) von Fr. 58’000.— mit budgetierten Einnahmen von Fr. 17’000.— und realen Einnahmen vom Dreifachen wurde richtiggehend aus jeder Diskussion und Kritik weggefegt. Dem Verein war somit vom ersten Anfang an eine schöne und solide Basis gegeben.

Eine Komödie mit Wort- und Beziehungswitz, mit einer sommerlichen und italienischen Leichtigkeit im vollsten Ernst gab einer Stadt erst ihr Freilichtspiel. Einprägend. Verschiedene! wollten den Arcas in Campiello umtaufen lassen, nachher …

Das war das erste Jahr, das zweite “brachte” mit Jean Grädel und Alex Müller (“Ihr seid ja wieder wahnsinnig, warum Fremde ho-len?”) den “Mittsommernachtstraum”. Man bemerke die Übersetzung schon nur des Titels … Dieses Projekt gab dem Verein eine weitere Dimension in der Gestaltung der Ausstattung, des Kunst-raumes Bühne und Kostüm, und wirkte bei verschiedenen Theatermachern in der Schweiz überzeugend. Erste Nachahmungen fassten in anderen Städten Fuss.

Dann folgte “Mutter Courage”, damit die schönsommerliche Dimension des Theaters nicht nur in der Komödie stecken bleiben durfte. Auch dieses sozialkritische Engagement faszinierte, ganz anders, aber sehr wahrscheinlich erreichte der Verein erst jetzt und spätestens mit dem “Dra Dra” die volle Bedeutung und Dimensi-on des “Theaters Vorussa”. Die Churer Enge war ganz unbemerkt bereits eine schweizerische geworden, Publikum aus Zürich, Schaffhausen, Basel, Luzern und Fribourg aber auch aus Bregenz und sogar aus Stuttgart fand sich ganz natürlich in Chur ein. Som-merlich, theaterinteressiert, kultursuchend.

Die Freilichtspiele Chur, ein Zufall zur richtigen Zeit? mit einigen packenden Ideen und Vorlagen? mit Glück und Mut? … Jedenfalls eine Idee, die Fuss fasste, ihren Weg ging und fliegen lernte.

Oliver, Andrea, Bettina, Bethli, Paul und Maria … Claudia, Renata, Gusti, Reto, Philipp und Peter, Serena, Corina, Denise, Ursina … Adrian, Hubert, Urs, Nesa, Ursula, Diego, Beda, Rainer, Daniel, Domenic, Mario und Martha, Siegfried, Sandra und Selina … und bis jetzt sicher an die zweitausend andere und weitere haben die Freilichtspiel Chur gemacht, getragen, gestaltet, geprägt.

 

Vielen und allen: vielen, vielen Dank!

 

Gian Gianotti, Juli 2001

 

 

Peter Brook

7. Juli 2022, DIE ZEIT Nr. 28 – Feuilleton

 

 

Der Meister des Doppellichts

Zum Tod des großen Theaterregisseurs und Menschenforschers Peter Brook.  Von Peter Kümmel

* 21. 3. 1925  † 2. 7. 2022

 

Das Theater, sagte Peter Brook einmal, eröffne allen Beteiligten die Möglichkeit, im selben Augenblick zwei völlig gegensätzliche Erfahrungen zu machen: zu glauben und nicht zu glauben. Der Schauspieler glaube absolut an die Figur, die er gerade spiele – und zugleich glaube er nicht im Mindesten an sie. Das gelte auch fürs Publikum: Es sei gebannt von den Geschehnissen auf der Bühne und wehre gleichzeitig die Ellbogen und die Grippeviren der Sitznachbarn ab.

Auf dem gleichzeitigen Glauben und Nichtglauben beruhe alles. Das Theater, dieses Institut der Doppelbelichtung, so Brook, liefere ein wahreres Bild vom Leben als das Leben selbst.

In der Unschärfe der Doppelbelichtung schwebte auch er selbst, der von lettischen Einwanderern abstammende gebürtige Londoner Peter Brook: einer der größten Theaterregisseure, ein Repräsentant jener Zeit, als die Bühne noch der maßgebliche Ort der menschlichen Selbstdarstellung war. Ein Unsterblicher dieser an ihrer Spurenlosigkeit verrückt werdenden Kunst.

Andererseits misstraute er den Kulten dieser Kunst. Er lehnte es ab, große Theater in seiner Heimat zu leiten und zum Star der britischen Bühnenkunst zu werden (wie es sein Zeitgenosse Peter Hall tat). Stattdessen gründete er, nachdem er im englischen Theatersystem bahnbrechende Inszenierungen geschaffen hatte (beispielsweise vom Marat/Sade und von der Ermittlung des Peter Weiss und von Shakespeares Maß für Maß und dem Sommernachtstraum), eine internationale Truppe, mit der er um die Welt zog und die in einem auf Tarkowski-artige Weise verwitterten Theatergebäude im Norden von Paris, dem Théâtre des Bouffes du Nord, ihr Hauptquartier hatte. Schon sehr früh, lange bevor es Marketing-Konvention wurde, besetzte Brook dieses Ensemble colour-blind, also ohne auf Herkunft und Hautfarbe der Darsteller zu achten. Er nannte seine Kunst colour-rich, sinngemäß: aus dem Reichtum der Ethnien schöpfend.

Er ging auf Reisen, weil er zu Hause nicht weiterkam. Die Entwicklung der Darstellungsformen sei ausgereizt, sagte er mir vor einigen Jahren in einem Gespräch am Rande eines deutschen Festivals, bei dem er gastierte, der Ruhrtriennale, und an »Inszenierungen« – er sprach das Wort mit Widerwillen aus – habe er das Interesse verloren: »Jede Popgruppe treibt die Darstellungsformen bis an die Grenzen, da gibt es keine Überraschungen mehr. Die letzte Überraschung auf dem Theater bereitet das handelnde menschliche Wesen.«

So wurde das Theater ihm zum Mittel, das Leben zu lernen. Das Wissen anderer Kulturen und versunkener Reiche nannte er einen Vorrat an potenzieller Hilfe für uns Heutige. Namentlich von den Afrikanern lernte er; dort existiere eine hoch entwickelte Architektur des menschlichen Zusammenlebens, von der die Europäer keine Ahnung hätten. Der Westen bewege sich kulturell abwärts, wir seien diejenigen, die der Hilfe bedürften. Wer auf andere zugehe mit dem Bewusstsein »Wir wissen mehr als ihr«, der wisse gar nichts. »Die richtige Botschaft lautet: ›Ihr wisst mehr als wir – helft uns!‹«

Sein berühmtestes Werk ist keine Inszenierung, sondern ein Buch, oder eigentlich: ein Buchtitel. Der leere Raum – so heißt Brooks Essay über die Essenz des Theaters, letzten Endes: über den nackten, fragenden Menschen, der sein Leben aufs Spiel setzt. Der Titel ist – ohne Schuld des Autors – zu Ideal, Chiffre und Klischee des Theaters unserer Zeit geworden, denn der kulissenlose, leere Raum ist die gängige Bühne heutzutage. So hatte Brook es aber nicht gemeint. Seine Bühnen wirkten wie Wüstenrastplätze, an denen Teppiche ausgebreitet worden sind. Keine Endpunkte, sondern Stationen. Voilà, das ist unser Lager, bespielbar für eine Nacht und zu betreten auf leisen Sohlen.

Das Beduinentheater Peter Brooks ist sich des Sandes und des Windes bewusst, die über alles Menschenwerk hinweggehen. Es macht beide, Sand und Wind, zu Verbündeten. Es setzt keine Denkmäler, es legt Spuren. Und es kommt flink voran; es bewältigt auch die kompliziertesten Geschichten, ehe der nächste Sandsturm beginnt.

In seiner Inszenierung The Man Who (nach Oliver Sacks’ Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte) wird das menschliche Gehirn zum Objekt der Raumforschung: Wie ein glühender Planet ist es in der letzten Minute des Abends auf einem Fernsehmonitor zu sehen. Alle Szenen, die davor gespielt wurden, sind ganz simpel und wagen das Höchste: Es sind Versuche, das Wunder dieses unglaublichen Organs zu verstehen.

Zuletzt sei eine Szene aus seinem Pariser Hamlet (2000) erwähnt: Hamlet (Adrian Lester) führt vor dem Mörder seines Vaters ein Kriminaltheaterstück auf, Die Mausefalle, weil er den zuschauenden Täter, seinen Onkel, überführen will. Der Pariser Hamlet betrachtet die Vorführung aber nicht vom Rand aus, nein, er kriecht mit brennender Kerze auf die Bühne, mitten unter die Spieler: kein Ermittler in einem Mordfall, sondern ein Forscher, der einen viel größeren Mechanismus untersucht.

Im Grunde war Peter Brook selbst dieser Hamlet. Einer, der loszieht und – im Doppellicht der Bühne – verstehen will, wie alles geschah. Jetzt ist er in Paris gestorben. Er war 97 Jahre alt.

 

 

 

(Mit bestem Dank an  © Peter Kümmel für diesen Nachruf)

 

 

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