1988 S / D
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Stephen Poliakoff: LAND IN SICHT
Stadttheater St. Gallen, Intendanz Glado von May
Premiere: 10. November 1988
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Inszenierung – Gian Gianotti
Dramaturgie – Kurt Wanzenried
Bühnenbild – Manfred Holler
Kostüme – Johanna Weise
Regieassistenz – Marie-Rose Russi
Inspektion – Gabriele Wiesner
Souffleuse – Waltraut Blumberg
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Besetzung
Halina – Silvia Glogner
Neville – Kurt Schwarz
Andrew – Diethelm Stix
Peirce – Thomas Hary
Booth – Jens Peter Brose
Teresa – Regine Weingart
Türkische Frau – Paula Bukovac
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Stadttheater St. Gallen, Aus der Theater-Zeitung Nr. 3 der Spielzeit 88/89
Die zweite Schauspielproduktion dieser Spielzeit ist thematisch im Umfeld der Asylantenfrage angesiedelt: «Land in Sicht» des 36jährigen Briten Stephen Poliakoff («Hitting Town», «City Sugar»). Premiere ist am Donnerstag, dem 10 November 1988, um 20 Uhr (Abo P und freier Verkauf). Inszeniert hat Gian Gianotti, von «Oppenheimer» noch in bester Erinnerung. Mit ihm sprach Kurt Wanzenried.
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Land in Sicht
Stück von Stephen Poliakoff
Poliakoffs Stück ist noch neu und relativ unbekannt. Könnten Sie aus diesem Grund kurz skizzieren, worum es geht? Oder anders gefragt: Worauf spielt der Titel «Land in Sicht» an?
Das Stück behandelt die Geschichte der Polin Halina, die auswandert, um eine neue Aufgabe, eine neue Perspektive für ihr Leben zu finden. In London möchte sie sich eine neue Existenz aufbauen. «Land in Sicht» heisst auch «Beziehung in Sicht», «Aufgabe in Sicht», «neue Seinsbereiche in Sicht». Halina kommt herüber mit einer grösseren Gruppe von Studentinnen und springt ab, um die ganze Aufenthaltsbewilligungspraxis zu umgehen. Sie wird von einer Art von Schlepper an einen jungen Anwalt vermittelt, der sie heiraten soll. «Land in Sicht» ist damit nicht nur von Halina aus, sondern auch von Neville aus – so heisst dieser dynamische, sportliche, erfolgreiche Anwalt – als «Beziehung in Sicht» zu verstehen. Ganz am Anfang steigt sie auf die Idee ein, über eine Scheinheirat die Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Später sagt sie nein, will mit eigener Kraft in das Land kommen, weil sie Gründe hat, die wahrgenommen werden sollen. Sie will als Frau, als Mensch wahrgenommen werden und darum Aufenthaltsrecht erhalten. Sie wehrt sich gegen die Entmündigung, die mit einer Scheinheirat verbunden wäre.
Es ist jetzt relativ stark der zwischenmenschliche Aspekt angesprochen worden. «Land in Sicht» ist also kein trockenes politischen Lehrstück?
Nein, es ist eigentlich ein Beziehungsstück. Es geht um eine Perspektive. Die man nicht aus den Augen verlieren darf, um überhaupt eine Daseinsberechtigung für sich zu haben.
Trotzdem haben wir «Land in Sicht» vom Spielplan her natürlich in Beziehung zur momentan heiss diskutierten und uns alle beschäftigenden Asylantenfrage gesehen. Wie weit ist es denn darauf anwendbar?
Poliakoff greift diese Thematik auf, um eine Orientierungssuche darzustellen. Und natürlich ist mit diesem Ost-West-Motiv Polen-England auch eine Auswanderung über verschiedene staatliche Grenzen hinaus angesprochen. Aber Poliakoff behandelt nicht unbedingt das Problem des politischen Flüchtlings. Halina ist kein politischer Flüchtling. Sie ist keine orientierungslose Frau. Sie weiss ganz bestimmt, was sie will, und da ist sie schon ein bisschen anders als viele Asylsuchende oder Leute, die per Zufall in ein neues Land kommen und um Aufenthaltsbewilligung bitten. Sie will dahin, sie hat sich mit dieser Kultur beschäftigt, mit dieser Sprache, sie kennt die Lebensart dieses Landes und geht ganz gut damit um.
Sie hat ja auch ein relativ hohes Bildungsniveau, und es entspinnt sich im Verlauf des Stücks geradezu ein intellektueller Wettstreit zwischen ihr, ihrem Anwalt und Freund Neville und den Behörden.
Richtig. Aber in der Situation, in der wir jetzt stecken, liegt es natürlich auf der Hand, dass man mit dem Stück auch die Problematik Asylland Schweiz heute angeht. Lösen können wir das Problem nicht, aber wir können es präsentieren, können die Spannungsbreite präsentieren.
Geben das Stück und seine Interpretation da genug her, oder greifen Sie zu zusätzlichen Mitteln?
Es gibt einiges her, und ich glaube, mit der ziemlich strikten Strichfassung, die wir eingerichtet haben, gewinnt das Stück an Aktualität – an Notwendigkeit, auch wirklich gespielt zu werden. Dazu schieben wir zwischen den Szenen Texte ein aus der Situation der Schweiz in Konfrontation mit dem Fremden.
Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die aus den genannten Gründen privilegierte Halina. Poliakoff rundet das Bild ja doch ab, nach oben wie nach unten, indem er eine Frau zeigt, die schon relativ lange in diesem für sie fremden Land lebt und als Gegenbeispiel eine andere Frau, die völlig sprachlos, chancenlos und hilflos vor den Türen der Behörden steht.
Die Spanierin Teresa ist im Land, seit sie vierjährig war. Sie erzählt über ihre ersten Eindrücke damals vor vielen Jahren, und Freundschaft, die zwischen Halina und Teresa entsteht, unterstützt die Polin in der Konfrontation mir den Behörden. Die andere, eigentlich stumme Person, ist eine Jugoslawin, die jetzt neu Zutritt sucht, aber die grosse Sprachbarriere und Kulturbarriere noch mit sich schleppt. Da sehen wir, wie jemand zwischen Stuhl und Bank ständig hin- und hergeschoben wird. Man ignoriert sie förmlich und nimmt sie als Mensch überhaupt nicht wahr.
Sie würde wohl für das Gros derer stehen, die wir landläufig als Asylbewerber bezeichnen. Aber interessant ist in dem Stück nicht nur die Seite der Fremden. Interessant ist ja auch, wie der Autor zeigt, was mit den Einheimischen passiert.
Den Einheimischen – sei das dem Anwalt Neville, sei das diesem Schlepper Andrew – gehen schon gewisse Lichter auf. Sie fangen an, darüber nachzudenken, was sie eigentlich sind. Dies ausgelöst durch die Konfrontation mit Halina, die eine ganz andere Mentalität mit sich bringt, die sehr viel Zeit gehabt hat, über Leben und über Beziehungen nachzudenken. Sie werden ganz stark in Frage gestellt, sie lassen sich auch in Frage stellen; und da bricht einiges ein von der Sicherheit, die sie sich aufgebaut hatten in ihrer schnellebigen Welt. Da sind plötzlich Träume, Angstbilder. Neville fühlt sich selber befragt, er wird dann auch tatsächlich von den Behörden befragt. Asylbewerber und Landsleute gehen durch den Raum und gaffen; aus diesen Menschen werden Tiere, das Leben wird zum Alptraum. Es wird eine riesengrosse Orientierungslosigkeit dieser Menschen sichtbar. Auch bei den Beamten, welche die Befragungen durchführen – Peirce und Booth – brechen zum Teil gewisse menschliche Erfahrungsbereiche oder Wünsche durch, die aber dann wieder überspielt oder zugedeckt werden von Beamtentum, von Recht und Gesetz.
Der Autor versucht also, nicht einfach schwarzweiss zu malen, sondern zeigt auch die Vertreter der Einwanderungsbehörden menschlich, mit Licht- und Schattenseiten.
Ja. Dabei bleibt das Stück in einer fast surrealistischen Ambiance. Auch direkte Gespräche sind etwas überhöht, und es sind Figuren, die sich naturalistisch nicht so orientieren würden. Das ermöglicht, eine gewisse Künstlichkeit zu schaffen. Wir möchten diese Expressivität unterstützen und nicht nur verbal Inhalte vermitteln, sondern wirklich eine gefühlsmässige Orientierungssuche in einer neuen oder einer alten, aufgebrochenen Umwelt zeigen.
Spiegelt sich das auch äusserlich wider, oder erwartet uns ein realistisches Wohnzimmer, ein realistisches Büro usw.?
Nein, wir haben das sehr surreal gelöst. Wir spielen das Ganze auf einer Art Autobahnteilstück, das nicht mehr gebraucht wird; in einer Art Hohle Gasse; in einer Einflugschneise, die mit Eisschollen zugefroren ist – sozusagen eine Kommunikationsstrasse, die zugesperrt und zugebaut ist, um anderen Menschen keinen Zugang mehr zu gewähren.
Das klingt nach einem sehr kalten Klima . . .
Na ja, es ist ja auch schon eher kalt, was passiert – auch heutzutage mit den Asylanten bei uns. Wahrscheinlich ist sehr vieles von der Aggression, die wir in der Gesellschaft und in den Medien tagtäglich spüren, ganz einfach Angst – eine fast existentielle Angst vor Infragestellung unserer Lebenskonzeption. Und das könnte schon auch eine wichtige Komponente sein, warum man «Land in Sicht» machen soll. Natürlich: Beziehungspsychologen würden sagen, dass alles in der Welt nur eine Beziehungsfrage zwischen dem Menschen und der Umwelt sei. Aber hier geht es auch um politische und finanzielle Entscheidungen, die ein Staat getroffen hat und die nun ihre Konsequenzen haben. Das Problem der türkischen Flüchtlinge hängt doch z. B. mit der Investitionspolitik der Schweiz zusammen, etwa beim grossen Stauwerk Atatürk vor Jahren. Leute, die dort nicht mehr beschäftigt werden können, suchen jetzt irgendwo neuen Lebensraum, die Schweiz als reiches Land wirkt einladend und attraktiv. Das können wir denen nicht verübeln, dass sie hier herkommen wollen. Nur aufnehmen wollen wir die Leute dann nicht, das ist uns zu viel. Und die Infragestellung wollen wir so weit wie möglich von uns halten. Das ist ein Selbstschutz, als Reaktion sehr wahrscheinlich natürlich, aber irgendwo nicht besonders verantwortungsvoll.
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Sonntag, 6. November 988, 11 Uhr Lesung und Einführungsgespräch im Hotel Hecht, am Bohl
“Wie Fische ohne Wasser”
Texte von und über Asylanten, vorgetragen und vertreten vom Projektensemble
Eintritt Fr. 3.– (Theaterverein und JTG frei)
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Samstag, 7. Dezember 1988, nach der Vorstellung “Land in Sicht”
Flüchtlinge – Made in Switzerland?
Eine Podiumsdiskussion mit: NR Paul Rechsteiner (SP), Peter Bosshard (Erklärung von Bern), Prof. Dr. Heinz Hauser (HSG) u.a.
Gesprächsleitung: Hanspeter Trütsch (Bundeshausredaktor Radio DRS)
Eintritt frei
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Das Programmheft:
>>> Land in Sicht pdf, 21 Seiten
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Pressestimmen:
>>> Land in Sicht TheaterZeitung 88-89.3
>>> Wie Fische ohne Wasser und Podiumsdiskussion TheaterZeitung 88-89
>>> Asylanten – “Wie Fische ohne Wasser” St.Galler Tagblatt, Helga Schabel 8.11.88
>>> Das falsche Stück zum wichtigen Thema St.Galler Tagblatt, Peter Surber 12.11.88
>>> Nachdenken über Asylpolitik Appenzeller Zeitung, Ralph Ottinger 12.11.88
>>> Regie und Ensemble suchen ein Stück Die Ostschweiz, Martin Wettstein 12.11.88
>>> Das Packeis schmolz nicht Tagers Anzeiger, Anita Hänsel 14.11.88
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