Die MUSIK zu TemPest

Die Musik zu TemPest

 

Matthew Locke (1622 – 1677), wunderbar feinfühliger Mensch, Seismograph gesellschaftlicher Prozesse, wahrer Kenner der neuesten Entwicklungen musikalischer Bewegungen, Lehrer von Henry Purcell – und ein zutiefst melancholisch empfindender Musiker…

Er sammelt:

Steht auf der einen Seite in seiner englischen Insel-Tradition, nimmt wahr, welche Musikstile sich wie entwickelt haben, seien es die höfischen quasi „offiziellen“ Positionen, die er als Hofkapellmeister zu pflegen hat, seien es kammermusikalische Formen, die beispielsweise im Lautenlied gepflegt wurden oder seien es aktuellst-populären Ausdrucksweisen wie in „Popsongs“, Tänzen, die in Bars, auf der Strasse gepflegt wurden. Und importiert: Mode ist am Hof die Adaption des franzölsischen Stils, Mode war das italienische Virtuosentum – beide Ausrichtungen sind in seinem Schaffen immer anzutreffen.

Und immer wieder Melancholie:

Robert Burton schreibt zu Shakespeares Zeiten, kurz nach der Entstehung von „Tempest“, seine „Anatomy of Melancoly“ – ein Buch, eine Philosophievorlesung, eine „Wütung“ mit Folgen – kaum ein Buch, vielleicht keines, wurde in der damaligen Zeit innerhalb von 30 Jahren so oft aufgelegt, 800 Seiten stark… Das Buch: eine Sammlung, die der Geschichte der Melancholie in tiefster Tiefe nachgeht, die Begründungen für diesen „Zustand“ erspüren will, die den Menschen auf sein Ich zurückwirft, ihn ausliefert (sich selber gegenüber, der Gesellschaft, den magischen Archetypen) und letztlich von Egozentrik, Narzismus und Egomanie berichtet.

Melancholie, auch und vielleicht die zweifelnd-verzweifelte Hoffnung auf das Bessere, das Gute, eher noch: die Liebe, die Zukunft. Das sind die Themata in allen Werken, die Locke komponierte. Alle Gattungen betreffend.

Matthew Locke sammelt!

Komponisten, die für ihn, mit ihm arbeiten. Für Tempest gesellen sich fünf weitere Komponisten zu ihm, eine Werkstatt entsteht, die der Rembrandts nicht unähnlich ist, vielleicht noch präziser organisiert: Locke weiss (ein Beispiel), dass nur sein Freund Hart das zentrale Liebeslied der Dorinda (Miranda bei Shakespeare) schreiben kann! Er trägt nur und einzig dieses Lied bei. Andere haben mehr zu tun, schreiben die Kompositionen zu Unterwelt (Musik der Teufel) und Unterwasser (Musik des Reichs von Neptun). Locke komponiert den Hauptteil der Semiopera, die Orchestermusik vor allem, die höfischen Tänze, Ouvertüren, Portraits – meist schräg mit unerwarteten Effekten, Affekten und unregelmässigen, Perspektive sprengenden Proportionen.

Wahre Melancholie eben:

die Zeit nehmen muss, wenn sie es will, die abbrechen muss, wenn es nicht weiter geht, die Neues finden muss, um Hoffnung wieder zu gewinnen. Melancholie ist Sturm, ist Tempest, ist bei uns auch TemPest: ist ein Zustand in Bewegung, ein Abschiednehmen, aber vor allem ein Wünschen für die Zukunft, für das Besserwerden in der kommenden Zeit, für die Generationen, die dann sich selbst werdend die Welt, Liebe als Realität gestalten sollen, stark und zuversichtlich und an sich und die Wahrheit menschlichen Lebens glaubend.

Wir sammeln auch:

Und errichten eine heutige Werkstatt mit zwei Komponisten und bitten sie um Stellungnahme zu Locke, zu den Grundfragen von Tempest. Die Aufgaben sind gegeben: die Insel muss einen Grundklang bekommen, hatte sie schon bei Shakespeare. Die Insel, ein ewig wirkender Ort, soll Musik sein, braucht einen Untergrund aus dem Jetzt, der gerade ablaufenden Zeit. Unsere Verbindung zur Zeit von Locke: bereits im 16. Jahrhundert stilisierte sich die Form der Chaconne als Aussage zur Unendlichkeit. Die repetitive Struktur, oft acht Takte, die unendlich lang variiert werden können, ist Zustand, keine Architektur mit Haupt- und Nebentrakten, Verzierungen, sondern Zustand in immerwährender Veränderungen des Gleichen. Saskia Bladt schreibt eine Inselmusik, die bereits vor der Aufführung erklingt (im Foyer), lange danach ihr „Ende“ findet, oder eben kein Ende (im Nachhausegehen? Im Leben?), weil sie uns auf unserer Insel Erde sowieso nie verlassen wird.

Und wieder Melancholie:

Miranda, die Tochter Prosperos im Moment ihrer Ablösung vom Vater, der diese Selbstfindung auch will und lenkt, Miranda in ihrer vielleicht ersten tiefen Liebesbeziehung, in ihren Zweifeln hin und hergerissen zwischen Vaterliebe, Freund und Naturwahrnehmung, muss, wenigstens im Verständnis von Locke, eine tief emotional-melancholische Seite gehabt haben: ihr Lied, das wie angesprochen Hart komponierte, ist das mit Abstand längste Lied und auch zarteste und tieftraurigste…

Und wir sammeln eine weitere Haltung:

jene von Martin Derungs: 13 Textstellen aus dem Libretto werden als kurze Interventionen hineinkomponiert, in einer klaren und reduzierten Poetik, die Verläufe der anderen Ebenen, Blitzen gleichend, die manchmal unterbrechend-laut, manchmal mit leisester Gestik in kammermusikalischen Besetzungen die Zeit gliedern, still stehen lassen und Aussenbeleuchtungen darstellen, die einen Moment erhellen, unterstreichen, hervorheben.

Auch da Melancholie:

Zum Beispiel jene der Klangfarben, wenn etwa ein Tenor mit Viola, Kontrabass und Fagott ein Quartett in dunklen Tönen anstimmt – aber auch da immer: Melancholie hat den immanenten Hang zur Hoffnung, zur Zuversicht, ist nicht Depression, sondern Schönheit des Lebens, Liebens.

 

Matthias Weilenmann

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